Eröffnungsvortrag Prof. Dr. h.c. Horst M. Teltschik
Die 2. Deutsch-Polnischen Medientage
Stettin, 17. Juni 2009, Oper im Schloss, Schloss der Pommerschen Herzöge


Guten Abend meine sehr verehrten Damen und Herren, Exzellenzen,

ich freue mich, dass ich wieder einmal in Polen sein darf. Ich war ja 21 Jahre in der Politik tätig und die längsten Verhandlungen, die ich in dieser Zeit je geführt habe, waren die mit der polnischen Regierung. Sie dauerten insgesamt 8 Monate. Aber es waren die spannendsten, weil ich mit der Regierung Rakowski 1989 die Verhandlungen begonnen habe und sie erfreulicherweise mit der Regierung Mazowiecki beenden durfte. Diese Veränderung Polens, diese Transformation von einem kommunistischen System zu einer freiheitlichen Demokratie persönlich miterleben zu dürfen, war natürlich ein Höhepunkt meiner politischen Kariere.

Diese Erfahrungen machten mir auch deutlich, welche Bedeutung die Bewegung Solidarność seit 1980 für die gesamte Entwicklung in Europa haben musste und haben würde. Viele Deutsche haben damals gar nicht wahrgenommen, welche dramatischen Veränderungen sich in Polen vollzogen haben. Seit Mitte der 80er Jahre habe ich auch viele Gespräche in Ungarn geführt – mit Miklós Németh und Gyula Horn, begonnen, als sie noch beide Sekretär im ZK der kommunistischen Partei Ungarns waren. Und diese Erfahrungen in Polen und in Ungarn, die ich im Rahmen persönlicher Gespräche und Verhandlungen machen durfte, haben mich sehr früh erkennen lassen, wie sich diese Veränderungen auf die Staaten des sozialistischen Lagers, einschließlich der DDR, auswirken. Die Auswirkungen gingen darüber hinaus. Im Juli 1989 gab ich dem Bonner Generalanzeiger ein Interview und wies darauf hin, „dass die deutsche Frage wieder auf der Tagesordnung der internationalen Politik steht“. Sowohl die SPD als auch die FDP forderten meine Entlassung. Auch Bundeskanzler Kohl war von meiner Aussage nicht begeistert und fragte mich, warum ich das denn sagen musste. Ich antwortete ihm, weil es richtig sei, nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen in Polen und Ungarn.

20 Jahre, meine Damen und Herren, nach der Öffnung der Mauer will ich aber am heutigen Tag, dem 17. Juni, auch darauf hinweisen, dass 1953, vor 56 Jahren Bürger in der DDR erstmals versucht haben, sich vom kommunistischen Joch zu befreien. Sie wissen, dass der 17. Juni 1953 für uns Deutsche ein wichtiger Tag in der Geschichte ist. 1980, vor 29 Jahren, wurde auf der Danziger Leninwerft die Solidarność-Bewegung mit Lech Wałęsa gegründet.

Es war faszinierend: Am Tag, als sich die Mauer öffnete, war Bundeskanzler Helmut Kohl mit seiner Delegation nach Warschau gekommen, um die Gemeinsame Erklärung, die ich in den zurückliegenden acht Monaten ausgehandelt hatte, mit Ministerpräsident Mazowiecki zu unterzeichnen. Hätten wir gewusst, dass sich an diesem Tag die Mauer öffnen würde, hätten wir diese Reise verschoben. Aber just in dem Augenblick, als Helmut Kohl das Gespräch mit Lech Wałęsa im Gästehaus der Regierung hatte, kamen die ersten Hinweise auf die Ereignisse in Berlin. Ohne dass Lech Wałęsa das wusste, genauso wenig wie wir das wussten, sagte er zum Bundeskanzler: „Herr Bundeskanzler, was sich jetzt in der DDR abspielt – die zahlreichen  Demonstrationen, die vielen Ausreisen von DDR-Bürgern über Prag, übrigens auch über die Botschaft in Warschau, über Ungarn, – das wird zur Wiedervereinigung Deutschlands führen.“ Wir haben diese Einschätzung damals zur Kenntnis genommen, ohne dass wir in diesem Augenblick wirklich daran glaubten. Am nächsten Morgen, als ich zum Frühstück zum Bundeskanzler ging, traf ich auf dem Hof des Gästehauses wieder auf Lech Wałęsa, der auf dem Weg zu unserem Außenminister Hans-Dietrich Genscher war. Er kam auf mich zu und sagte: „Herr Teltschik, was habe ich dem Bundeskanzler gestern gesagt?“, aber er fügte etwas deprimiert hinzu: „Jetzt wird es uns wie immer in der Geschichte gehen, wenn sich jetzt Deutschland einigt, dann wird Polen wieder in den Hintergrund des deutschen Interesses treten müssen.“ Ich habe ihm gesagt, dass ich nicht daran glaube, sondern dass ich die Bedeutung Polens weiterhin für wichtig halte. Aber diese polnische Einschätzung hat sich in den Folgejahren fortgesetzt. Ich traf 1993 mit Außenminister Skubiszewski in Warschau zu einem Freundschaftsbesuch zusammen. Ich war damals nicht mehr in der Politik. Er  beklagte sich: „Herr Teltschik, jetzt kommt niemand mehr nach Warschau“. Daraufhin sagte ich ihm: „Herr Minister, dann müssen Sie reisen. Wenn Politiker nicht mehr so häufig nach Warschau kommen, dann müssen polnische Politiker in die Hauptstädte der Länder reisen, an denen sie besonders interessiert sind.“

Meine Damen und Herren, als ich die Verhandlungen mit der Regierung Rakowski begann, der im Januar 1989 den Bundeskanzler gebeten hatte, persönliche Beauftragte zu benennen, hatte ich einen Gesprächspartner in Warschau, der aus Racibórz kam. Ich selbst komme aus Nordmähren, Novy Jičín, Neutitschein und die Entfernung beider Städte beträgt etwa zwischen 50 und 100 km, ich weiß es nicht genau. Ich empfand diese Begegnung damals  nicht als einen Zufall, sondern als ein vom Schicksal gewolltes Zusammentreffen, dass ein Pole und einer, der in der Tschechoslowakei geboren wurde, aufeinander trafen, um zu verhandeln, wie wir die Beziehungen zwischen Polen und Deutschland auf eine neue Grundlage und auf eine dauerhafte freundschaftliche und friedliche Grundlage stellen können. Im August 1989, als Mazowiecki ins Amt gekommen war, war mein Gesprächspartner ein sehr liebenswürdiger Journalist, Herr Mieczysław Pszon, 72 Jahre alt, der beim ersten Gespräch zu mir sagte: „Herr Teltschik, wir sind Freude, jetzt wird alles viel leichter.“ Es war nicht ganz so leicht, weil Herr Pszon als Journalist zwar ein sehr gebildeter Mann war, aber von politischen Einzelheiten nicht sehr viel Ahnung hatte. Er musste sich erst in die Materie einarbeiten.

Meine Damen und Herren, wir haben am 14. November 1989 eine Gemeinsame Erklärung unterzeichnet, insgesamt 20 Seiten lang. Willy Brandt sagte damals zu dieser Erklärung im Bundestag, sie sei etwas lang, aber sie sei sehr gut. In dieser Erklärung haben wir versucht, im Prinzip auf allen Ebenen und in allen Bereichen die Beziehungen zu gestalten. Die Tatsache, dass wir heute in dieser Runde zusammen sind, beruht auf der Grundlage der Gemeinsamen Erklärung. Wir haben einen so genannten Jumbo-Kredit umgewandelt und vereinbart, dass mit diesem Geld gemeinsame Projekte, deutsch-polnische Projekte, finanziert werden sollen. Ich möchte aus dieser Erklärung einen Artikel vorlesen. Er ist auf einer Tafel am Eingang zitiert, aber nicht vollständig, doch ich halte ihn für den wichtigsten Artikel. Dort heißt es nämlich: „Die Bundesregierung Deutschland und die Volksrepublik Polen sind entschlossen, ihre Beziehungen im Gedenken an die tragischen und schmerzlichen Seiten der Geschichte zukunftsgewandt zu gestalten und damit ein Beispiel für gute Nachbarschaft zu geben.“

Meine Damen und Herren, damit haben wir ganz klar zum Ausdruck gebracht, dass wir trotz unserer tragischen Geschichte, die unsere Beziehungen geprägt hat, vor allem auf die Zukunft blicken wollen und die Probleme der Zukunft gemeinsam anpacken und lösen wollen. Wir konnten damals zwei Probleme noch nicht lösen. Wir konnten das Thema Oder-Neiße-Grenze nicht abschließend verhandeln.

Aber meine Damen und Herren, ich darf das hier in Polen noch einmal ausdrücklich sagen, Bundeskanzler Helmut Kohl hat persönlich nie die Oder-Neiße-Grenze in Frage gestellt. Ich habe seit 1972 mit ihm zusammen gearbeitet und wusste seitdem, dass für ihn die Oder-Neiße-Grenze endgültig war. Ich darf daran erinnern, dass der Warschauer Vertrag, den die Regierung Willy Brandt ausgehandelt hat, im Bundesrat ratifiziert werden musste, in der zweiten Kammer der Bundesregierung Deutschland. Helmut Kohl war damals Parteivorsitzender der CDU und Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz. Dieser Warschauer Vertrag wäre nicht ratifiziert worden, wenn Helmut Kohl als Parteivorsitzender nicht darauf gedrungen hätte, dass alle Ministerpräsidenten der CDU diesem Vertrag zustimmen. Ich selbst war bei dem Gespräch dabei, als er um Mitternacht seinem Kollegen, dem Ministerpräsidenten Hans Filbinger von Baden-Württemberg gesagt hat: „Wenn du morgen nicht diesem Vertrag zustimmst, werde ich als Parteivorsitzender der CDU zurücktreten.“ Das war eine handfeste Drohung und hat dazu geführt, dass der Warschauer Vertrag ratifiziert wurde.

Für den Bundeskanzler war nie die Frage entscheidend, ob die Oder-Neiße-Grenze die endgültige Grenze wird oder nicht, sondern zu welchem Zeitpunkt. Das war auch im Jahr 1990 so in seiner berühmten Zehn-Punkte-Rede vom November 1990, wo er versucht hat, eine Strategie zu entwickeln, wie wir uns die Einigung Deutschlands vorstellen. Übrigens sind wir im November 1989 intern, innerhalb des Bundeskanzleramtes davon ausgegangen, dass wir fünf bis zehn Jahre brauchen werden, um Deutschland zu einigen. Dass es so viel schneller gehen würde, hatte damals keiner von uns erwartet. Als der Bundeskanzler mit Ministerpräsident Hans Modrow in Dresden zusammentraf, dem damaligen Regierungschef der DDR, wussten wir, dass alles viel schneller gehen musste, weil wir nicht den Eindruck gewonnen hatten, dass Herr Modrow in der Lage sei, die Situation in der DDR zu meistern.

Trotzdem ist Bundeskanzler Helmut Kohl 1990 viel kritisiert worden, warum er in seiner Zehn-Punkte-Rede nichts zur Oder-Neiße-Grenze gesagt habe. Wenn Sie die Rede im Bundestag lesen, dann spricht er ausschließlich von der Wiedervereinigung der Bundesrepublik Deutschland und der DDR. Damit war auch die Aussage über die Grenzen verbunden. Aber sie haben ja morgen einen Zeitzeugen hier, der dieses Defizit anprangerte, Außenminister Genscher. Auch unsere polnischen Partner und Freunde haben Präsident Mitterrand und Präsident Bush mobilisiert, um den Druck auf Bundeskanzler Helmut Kohl zu erhöhen, die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze möglichst rasch zu erklären. Aber Sie wissen selbst, ein Jahr später, 1990, war dieser Punkt durch die Entwicklung selbst erledigt.

Meine Damen und Herren, wenn Sie sich die Bilanz der Jahre 1989 und 1990 noch einmal vor Augen führen, dann halte ich für eine der größten Errungenschaften die Tatsache, dass die Oder-Neiße-Grenze in der Tat endgültig völkerrechtlich anerkannt ist und seitdem keine öffentliche Diskussion mehr in Deutschland über diese Grenze stattfindet. Sie werden überrascht sein, dass ich das sage, weil das für Sie selbstverständlich ist. Aber als ich 1989 verhandelt habe, hier in Polen, war ich überrascht, wie viel Hass mir auf beiden Seiten begegnet ist. Von Oberschlesiern in Deutschland, die bis zu Morddrohungen auf mich reagierten, als ich einmal im Fernsehen gesagt hatte, ich verhandele mit Polen im guten Geiste: „Wie kann man mit Polen im guten Geiste verhandeln?“

Und wir haben den Hass erlebt, als Bischof Alfons Nossol, der gerade in diesen Tagen aus seinem Amt verabschiedet wurde, dem Bundeskanzler Annaberg [katholischer Wallfahrtsort in Oberschlesien] als Begegnungsort für eine deutsch-polnische Aussöhnungsgeste vorgeschlagen hatte, das Symbol einer großen Auseinandersetzung zwischen Polen und Deutschen. Es sei – nach Nossol – der richtige Ort, um die Aussöhnung symbolisch zu feiern.  Wir hatten damals unser Außenministerium gebeten, diesen Vorschlag Nossols zu prüfen. Unser Außenministerium hat mit dem polnischen Außenministerium, mit Außenminister Skubiszewski, diese Anregung geprüft und die Nachricht an uns, ins Bundeskanzleramt, übermittelt: „Ja, wir sollen und wir können nach Annaberg gehen.“ Sie alle wissen, wie viel Empörung der Vorschlag Annaberg in Polen ausgelöst hat. Das hat dazu geführt, dass Skubiszewski kalte Füße bekam und sich von diesem Vorschlag plötzlich öffentlich distanzierte. Und Helmut Kohl erfuhr die Kritik von deutschen Journalisten, dass er erneut  in ein Fettnäpfchen getreten sei. Hätte Außenminister Skubiszewski uns angerufen und gesagt,  beide Seiten sollten gemeinsam eine Alternative zu Annaberg vorschlagen, dann hätte sich alles in Wohlgefallen aufgelöst. Er hat es unterlassen, aber wir haben Skubiszewski fairerweise dafür öffentlich nicht kritisiert. Die Alternative war dann Kreisau.

Meine Damen und Herren, diese gemeinsame Erfahrung von 1989 war begleitet von einer klaren Strategie von Bundeskanzler Helmut Kohl. Er hat von Anfang an Ministerpräsident Mazowiecki und seiner Regierung deutlich gesagt und das in Deutschland in vielen Reden: „Wir wollen die Beziehungen zu Polen entwickeln, vergleichbar, wie wir die Versöhnung und Freundschaft mit Frankreich gestaltet und erreicht haben.“ Sie wissen, dass gerade Frankreich und Deutschland über Jahrzehnte der einzigartige Motor für die europäische Integration waren, dass es heute eine enge Freundschaft und Zusammenarbeit auf allen Ebenen mit Frankreich gibt. Und dieses Beispiel der deutsch-französischen Freundschaft war für uns von Anfang an Vorbild für die zukünftige Entwicklung der Beziehungen mit Polen. Ich halte dieses Ziel nach wie vor für wichtig. Für Deutschland sind aufgrund der Geschichte Europas die zwei wichtigsten Partner und Nachbarn Frankreich und Polen. Als ich in der Bundesregierung war, waren unsere französischen Partner Sozialisten, François Mitterrand war Präsident. In London regierte Margaret Thatcher, von der Conservative Party. Meine britischen Freunde haben mich immer gefragt: „Warum arbeitet ihr so viel enger mit den französischen Sozialisten zusammen als mit uns Conservatives. “ Ein französischer Freund und Historiker, Professor Rovan hat sich einmal der Mühe unterzogen, alle großen Kriege zwischen Frankreich und Deutschland zu zählen. Seit Karl V. im 16. Jahrhundert kam er auf 27 große Kriege zwischen Frankreich und Deutschland.
Ich habe dieses Beispiel meinen britischen Freunden erzählt und darauf hingewiesen: „That’s good enough.“ Das reicht, 27 große Kriege. Und wenn wir uns unsere gemeinsame deutsch-polnische Geschichte vor Augen führen, dann müssen wir eigentlich zum gleichen Ergebnis kommen. Die Antwort auf diese gemeinsame Geschichte kann nur Freundschaft sein, dauerhafte Freundschaft und Zusammenarbeit.

Meine Damen und Herren, Polen ist heute voll in den Westen integriert, die Sicherheit Polens ist garantiert. Die Europäische Union und die Atlantische Allianz sichern Frieden und Freiheit in Europa für alle Mitgliedsstaaten in gleicher Weise. Sie sichern Demokratie und Marktwirtschaft. Dennoch, wenn wir die Beziehungen der letzten zwanzig Jahre betrachten, so waren sie immer noch und immer wieder von Misstrauen geprägt, von Interessenkonflikten, vor allem in den Jahren 2005 bis 2007. Es ist verständlich, dass in allen Ländern viele Streitpunkte häufig auch durch innenpolitische Auseinandersetzungen begründet sind, sie haben aber auch zum Teil außenpolitische Gründe. Und deshalb muss man immer wieder darauf hinweisen, dass eine Politik der Freundschaft und Zusammenarbeit keine Einbahnstraße sein kann. Wir können Misstrauen nur im Rahmen einer Zweibahnstraße überwinden und Freundschaft entwickeln. Es wird nie reichen, wenn die Initiativen immer nur von einer Seite oder meistens nur von einer Seite ausgehen oder wenn Initiativen nicht erwidert werden.

Meine Damen und Herren, wir stehen heute gemeinsam vor großen Zukunftsaufgaben. Nicht nur, dass wir unsere bilateralen Beziehungen auf allen Ebenen weiter intensivieren und ausbauen müssen. Wir haben über die bilateralen Beziehungen hinaus enorme gemeinsame Aufgaben in Europa und international. Darauf möchte ich gerne eingehen. Der erste Punkt, der für mich von besonderer Bedeutung ist, ist die Frage, wohin wollen wir mit der Europäischen Union gehen? Wollen wir die Integration vertiefen oder nicht? Was ist das Ziel der Europäischen Union? Ich vergleiche die Entwicklung der Europäischen Union mit einem Zug, der immer schneller Fahrt aufnimmt in Richtung Integration, weil wir immer mehr souveräne Rechte an die Europäische Union abgeben und ich verstehe, dass das oft sehr kritisch in Polen beobachtet wird, aber das ist die Entwicklung. Dieser Zug in Richtung Integration beschleunigt sich, wir kennen aber nicht den Zielbahnhof dieses Zuges. Wohin wollen wir mit der europäischen Integration?

Die CDU Deutschlands hat bis 1990 im Parteiprogramm immer von den Vereinigten Staaten von Europa gesprochen. Seitdem leider nicht mehr. Für mich wäre das immer noch ein Traum, die Vereinigten Staaten von Europa zu bilden. Das heißt ja nicht, dass wir die Europäische Union identisch zu den USA entwickeln. Welche Alternative haben wir, wenn wir nicht in Richtung einer europäischen Integration gehen? Keiner redet darüber, wohin wir gehen wollen. Wollen wir einen Staatenbund, wollen wir eine Wirtschaftsgemeinschaft sein, was wollen wir? In der Vergangenheit waren vor allem Frankreich und Deutschland der Motor für die Integration. Heute kann dieser Motor nur ein Dreitakter sein, wenn sie so wollen. Er muss Polen einbeziehen. Wir haben ja den Versuch mit dem Weimarer Dreieck unternommen. Ich halte diesen Versuch für unverzichtbar, um eine Abstimmung zwischen Frankreich, Deutschland und Polen zu erreichen.

Meine Damen und Herren, da ich selbst acht Jahre europäische Gipfel vorbereitet und begleitet habe, weiß ich, dass solche Vorbereitungen nicht öffentlich vor sich gehen müssen, man beginnt vertraulich und versucht auch vertraulich, möglichst viele andere Partner einzubeziehen. Aber wenn es nicht einen Motor gibt, der Initiativen entwickelt, dann wird es überhaupt keine Initiativen geben. Wir erleben in der Europäischen Union, dass Frankreich andere Schwerpunkte setzt als Deutschland und Polen. Sarkozy hat das mit der Gründung der Mittelmeerunion deutlich gemacht.

Als ich 1989 mit Polen verhandelt habe, hatte mich der Bundeskanzler gebeten, nach Paris und nach London zu fahren und die Regierungen mit einzubinden und die Zusage zu erhalten, die Transformation Polens wirtschaftlich und finanziell zu unterstützen, politisch sowieso. Meine französischen Freunde im Élysée haben mir 1989 gesagt: „Wir haben andere Interessen“, und sie haben uns gesagt: „Mittel- und Osteuropa, das ist euer Spielfeld. Unsere Interessen liegen im Süden, im Mittelmeerraum.“ Ich halte das für völlig verständlich. Nur meine Damen und Herren, wenn das so ist, dann heißt die Schlussfolgerung ,,dass alles, was mit Mittel- und Osteuropa verbunden ist, eine Initiative zwischen Deutschland und Polen sein muss“. Margaret Thatcher hat mir 1989 gesagt: „Herr Teltschik, wenn die Transformation in Polen erfolgreich ist, dann werde ich Polen helfen.“ Ich habe ihr damals geantwortet: „Prime Minister, der Unterschied unserer Strategie besteht darin, dass Sie verlangen, dass die Polen ins Wasser springen und wenn sie das andere Ufer erreicht haben, sind Sie bereit, neue Kleider zur Verfügung zu stellen. Unsere Strategie ist die, den Polen einen Rettungsring zur Verfügung zu stellen, damit sie das andere Ufer erreichen.“

Ich berichte diese Erfahrungen, um zu zeigen, wie die Interessenlagen in Europa sind und ziehe daraus die erneute Schlussfolgerung, dass es keine Alternative zur Zusammenarbeit zwischen Polen und Deutschen gibt, wenn wir bestimmte europäische Themen voranbringen wollen. Das gleiche gilt für die Frage der Erweiterung der Europäischen Union. Polen hat ein großes Interesse an der Entwicklung der Ukraine. Man muss ja leider sagen, dass bis zur Orangen Revolution in der Ukraine sich in Westeuropa überhaupt niemand um die Ukraine gekümmert hat. Es wäre für die Ukraine viel klüger, zuerst in die Europäische Union einzutreten, bevor sie über die NATO nachdenkt, aus verschiedenen Gründen.

Meine Damen und Herren, die zweite entscheidende Aufgabe ist die Frage, wie sich die Atlantische Allianz, die NATO, zukünftig weiter entwickeln soll. 20 Jahre nach der Transformation hat die NATO noch immer keine überzeugende neue Strategie, was eigentlich ihre zukünftige Aufgabe sein soll. Soll die NATO, wie die Amerikaner es gern hätten, globale Verantwortung übernehmen? Oder soll die NATO sich auf regionale Verantwortung konzentrieren, hier in Europa, auf Gesamteuropa? Das wäre allein schon eine riesige Aufgabe, wenn Sie an die Konfliktzentren in Europa denken, einschließlich Russlands. Die Frage der Erweiterung der NATO steht auf der Tagesordnung. Ich habe mit großem Interesse gelesen, dass Ihr Außenminister Sikorski sich vorstellen kann, dass Russland eines Tages Mitglied der NATO werden könnte. Sie wissen, dass Präsident Clinton dem russischen Präsidenten Jelzin den Vorschlag gemacht hat, schriftlich und mündlich, in die NATO einzutreten. Clinton hat mir das persönlich berichtet, Die Antwort von Jelzin sei gewesen: „Das ist für Russland zu früh.“ Aber die Frage bleibt: Wäre das eine Perspektive, eine Option oder nicht?

Oder denken Sie an das Thema „Missile Defence“. Ich war letzte Woche in den USA und dort wurde mir ganz deutlich von Experten der neuen Administration gesagt: „Polen ist nicht der optimale Standort für ‚Missile Defence’.“ Nur weil Polen die amerikanische Präsenz wollte, hat man sich für Polen entschieden. Aber Sie kennen die Auswirkungen dieser Entscheidung, die ziemlich einseitig getroffen worden ist und viele Probleme ausgelöst hat.

Und damit sind wir bei der dritten zentralen Aufgabe: Wie wollen wir zukünftig die Beziehungen zu Russland gestalten? Meine Damen und Herren, die Russen nehmen als Messlatte nur einen Partner zur Kenntnis, das sind die USA, obwohl sie sich vom Gewicht her eigentlich nicht mehr an den USA messen können, mit Ausnahme der strategischen Nuklearsysteme. Gleichzeitig sind die USA der entscheidende Reibebaum, an dem sich die Russen ständig reiben und über den sie sich ständig ärgern. Der zweite Schwerpunkt der russischen Politik sind ihre übersteigerten Sicherheitsinteressen. Und jetzt stellt sich für uns in Europa doch die Frage: Wohin wird Russland zukünftig gehen? Soll Russland eine ungebundene Großmacht sein, mit einem autoritären System, weiterhin von uns als ein „Evil Empire“ verstanden oder wollen wir eine Partnerschaft mit Russland entwickeln? Soll Russland fester Teil Europas sein?

Meine Damen und Herren, im November 1990 haben alle KSZE-Staaten, also Nordamerika plus Gesamteuropa, in Paris eine „Charta für ein neues Europa“ unterzeichnet. Ich erinnere mich noch, als Gorbatschow nach der Unterzeichnung aufstand und sagte: „Was haben wir jetzt zu tun? Wir müssen von der Diktatur zur Demokratie und von der Kommandowirtschaft zur Marktwirtschaft gehen.“

Meine Damen und Herren, ich habe mich damals an eine Rede von Martin Luther King erinnert gefühlt, die mit den Worten begann: „I have a dream.“ Wäre es nicht ein Traum, ein Gesamteuropa zu entwickeln, ein gemeinsames Haus Europas, wie es Gorbatschow definiert hat, das demokratisch und marktwirtschaftlich geordnet ist? Von Vancouver bis Wladiwostok, wie es Medwedew jetzt nannte? Der Traum und das Ziel von 1990 war, eine gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsordnung anzustreben.

Was ist 20 Jahre danach daraus geworden? Die KSZE, oder heutige OSZE ist von marginaler Bedeutung. Die Russen lehnen sie mehr oder weniger ab. Haben wir wirklich die Chance genutzt, in diese Richtung von 1990 zu gehen? Ich behaupte, zum ersten Mal hatte unser Kontinent diese Chance – und ich halte sie immer noch für gegeben, wenn wir sie wollen –  eine gesamteuropäischen Ordnung zu gestalten, die langfristig von Demokratie und Marktwirtschaft geprägt ist. Und was könnte unseren Kontinent mit so vielen Kriegen, mit Abermillionen Toten, ein Kontinent von Blut getränkt, stärker sichern und stabilisieren als ein solches Ziel?

Aber das heißt, dass wir darüber nachdenken müssen, wer zusammenarbeiten müsste, wenn nicht vor allem Deutsche und Polen, um in Richtung eines solchen Zieles zu denken und zusammenzuarbeiten. Auch hier bin ich zutiefst davon überzeugt, dass wenn Deutsche und die Polen nicht zusammen die Initiative ergreifen, sich wenig bewegen wird. Das kann man vertraulich machen. Wenn wir es nicht machen, die Franzosen machen es nicht, die Briten haben andere Interessen und die USA ebenfalls.

Ich spreche diese Themen an, weil, meine Damen und Herren, ich gerade aus Washington zurückgekommen bin und eigentlich sehr ernüchtert bin. Aus den vielen Gesprächen mit der neuen Regierung und mit Senatoren gibt es ein klares Ergebnis: Wenn Sie sich die Agenda von Präsident Obama ansehen, nach innen wie nach außen, so fragt man sich, wie er alle die Probleme in den nächsten Jahren bewältigen will. Die Innenpolitik hat für ihn die absolute Priorität, weil er im nächsten Jahr wieder Wahlen vor sich hat. Er muss die Rezession in den Griff bekommen, er muss die Gesundheitsreform durchsetzen, und, und, und … Allein eine solche Agenda überfordert schon eine Administration. Nehmen Sie die außenpolitische Agenda von Obama hinzu: Irak, Afghanistan, Pakistan, Iran, Nordkorea – alles viel wichtiger als Europa oder Russland. Deshalb bin ich überzeugt, dass gegenüber Europa keine großen Initiativen von Amerika ausgehen werden. Eines werden die USA tun, sie werden jetzt die Verhandlungen mit Russland – und sie sind dabei – über die strategischen Nuklearraketen führen. Eine Gesprächspartnerin sagte mir: „This is a low hanging fruit we will pick.“ Das heißt START werden sie bis Ende des Jahres vertraglich regeln. Die USA und Russland werden die Nuklearraketen auf eine Zahl von etwa 1.500 Sprengköpfen reduzieren. Auf Präsident Medwedews Vorschlag einer neuen europäischen Sicherheitsordnung  bekommen Sie heute keine Antwort. Was uns zentral interessiert, wird von amerikanischer Seite nicht aktiv verfolgt. Das wäre aber ein europäisches Interesse und unsere Aufgabe. Wer kümmert sich in Europa darum? Niemand zur Stunde.

Meine Damen und Herren, Medwedew hat in Berlin den Vorschlag der Pariser Charta von 1990 wieder aufgegriffen, eine gesamteuropäische Sicherheitsordnung von Vancouver bis Wladiwostok zu schaffen.  Amerikanische Position: „We will see.“ Wir werden sehen, was uns die Russen hier vorschlagen werden, wenn Präsident Obama im nächsten Monat in Moskau sein wird.  Die Deutschen sagen das, die Europäer sagen das: Warten wir ab, was die Russen vorschlagen werden.

Meine Damen und Herren, warum setzen wir uns nicht zusammen, zum Beispiel Polen und Deutsche und überlegen, wie eine solche Initiative inhaltlich aus unserer Interessenlage aussehen sollte? Warum müssen wir abwarten, was die Amerikaner dazu sagen oder was die Russen dazu sagen? Warum ergreifen wir nicht selbst die Initiative? Ich habe den Eindruck, dass die Bedeutung Europas für die USA aufgrund der unglaublichen Belastung von Obama zurückgehen wird. Das gilt auch in Bezug auf  die Bedeutung der NATO: Bei den Europäern sehen die USA nur Streit und Uneinigkeit, strategische Ziele fehlen. In der NATO stieht man, dass dort, wo die USA die Unterstützung der Europäer erwarten, sie viel zu gering ausfällt, wenn sie überhaupt geleistet wird. Die USA haben keine großen Erwartungen an die europäischen NATO-Verbündeten. Sie werden in Zukunft eher von einer „Coalition of the Willing“ ausgehen, was Rumsfeld einmal auch das alte und das neue Europa genannt hat. Man wird sich die Verbündeten wählen, die Unterstützung leisten wollen, die anderen: „Forget about them.“

Das wird sich auch unter Präsident Obama nicht wesentlich ändern. Und deshalb, meine Damen und Herren, sage ich mit allem Ernst und Nachdruck: Es kommt sehr darauf an, wie die Deutschen und Polen in allen diesen Fragen zusammenarbeiten. Wir beide haben eine Schlüsselrolle in Europa, gerade in diesen Fragen. Und deshalb wäre mein Wunsch, dass wir nicht nur über Freundschaft und Verständigung reden, sondern dass wir handeln, dass wir uns zusammensetzen und gemeinsam tätig werden.

Herzlichen Dank.