Meine sehr geehrten Damen und Herren,
diejenigen unter ihnen, die kleine Kinder haben, wissen diese jetzt bestimmt in guter Obhut. Denn wenn Eltern das Haus verlassen, sorgen sie zuvor auch dafür, dass ihre Zöglinge während ihrer Abwesenheit wohl behütet und gut versorgt sind.
Wohl behütet und gut versorgt- dazwischen können jedoch Welten liegen.
Dies zeigt auf einfühlsame Weise die Dokumentation „Mama arbeitet im Westen“ von Ase Svenheim-Drivenes.
Es geht jedoch weniger um die Erwachsenen, sondern viel mehr um die Kinder, um Kuba und Mikolaj.
Nach Bildern aus glücklichen Tagen erfahren wir gleich zu Beginn der Dokumentation:
Als Kuba 12 Jahre alt ist, verlieren seine Eltern ihre Arbeit und häufen Schulden an.
Die Eltern trennen sich und verlassen Polen in Richtung Westen.
Kuba 12 und Mikolaj 8 bleiben allein in Polen zurück-
Allein
Wir erleben zwei Jungen, die auf sich gestellt sind, während die Mutter im Westen ihren Lebensunterhalt verdient.
Ein 12 jähriger trägt die Verantwortung für einen 8-jährigen. Kann das, darf das sein- im heutigen Europa?
Voller Ungeduld starre ich gebannt, wann erscheint die- oder derjenige, der sich rund um die Uhr um die Geschwister kümmert? Ich warte vergeblich.
Ase Svenheim-Drivenes gelingt eine Dokumentation, die aufregt und gleichzeitig sprachlos macht, die uns ins Innerste einer Familie führt, die intime Sphäre öffnet und dennoch den respektvollen Abstand behält.
Mit viel Einfühlungsvermögen gelingt ihr eine Langzeitbeobachtung- über Monate hinweg- die durch das wahre Leben ihre eigene Dramaturgie erhält.
Wir erleben innerhalb von Minuten, wie der ältere Bruder Kuba innerhalb von Monaten abdriftet, die Schule vernachlässigt, so wie er sich vernachlässigt fühlt.
Eine unbeschreibliche Nähe, Vertrautheit und großes Vertrauen geben diesem Beitrag seinen besonderen Reiz, man meint dabei zu sein.
Mimik und Gestik der Kinder, ihre Reaktionen machen jegliche Erklärung überflüssig.
Die Autorin ist stiller Beobachter, „No comment“ könnte der Untertitel lauten.
Die Dokumentation besticht durch eine außergewöhnliche Bildästhetik, einen sehr guten Schnitt.
Zu werten ist die hohe journalistische Leistung. Gezeigt wird eine neue Dimension- aus der Perspektive des Kindes: was im vereinten Europa passiert. Wir erleben eine andere Seite des harten Alltags.
„Mama arbeitet im Westen“ offenbart unverblümt, in aller Deutlichkeit, wie Kinder leiden, die auf sich gestellt sind, ohne elterliche Umarmung, ohne Gute Nacht Geschichte abends in Bett müssen, trotz Videospielen und Computer.
Wir erfahren, wie nah Hoffnung und Enttäuschung liegen, wie verheerend sich leere Versprechungen und Enttäuschung auf die noch so zarten und zerbrechlichen Wesen, die Selen der Kinder auswirken können.
Und wir reden von keinem Einzelfall: an die 100 tausend Kinder sind seit der EU- Erweiterung in Polen zurückgeblieben, während ihre Eltern im Ausland arbeiten. Damit es den Kindern mal besser geht. Tatsächlich? Und wie hoch ist der Preis?
Der Zuschauer schwankt zwischen Verständnis und Unverständnis.
Mit ihrer Dokumentation bewegt Ase Svenheim-Drivenes uns, neu darüber nachzudenken, was ausländische Arbeitskräfte leisten, unter welch psychischem Druck manch polnische Pflegekraft, Schwester oder Reinigungskraft im Ausland arbeitet, wohl wissend um die Sorgen der eigenen Kinder zu Hause. Und nachzudenken über die Kinder, die monate- sogar jahrelang ohne Eltern aufwachsen.
Auf überzeugende Weise vermögen sie es, Frau Ase Svenheim-Drivenes, mit dieser ihrer Dokumentation, das Zusammenleben zu hinterfragen und auch einen klaren Spiegel des Zusamenlebens in der EU uns vor Augen zu halten, Verständnis zu fördern und damit auch das Wissen übereinander.
Diese Dokumentation entspricht also in hervorragender Weise der Zielsetzung des Deutsch-Polnischen Tadeusz-Mazowiecki-Journalistenpreises.
Daher geht der diesjährige Preis in der Kategorie „Fernsehen“ wohlverdient an sie, Frau Ase Svenheim-Drivenes. Im Namen der Jury darf ich dazu recht herzlich gratulieren!
Bogna Koreng