Christoph von Marschall sprach über die Veränderungen, die sich in den letzten Monaten in der deutschen Tageszeitung vollzogen haben. Die epidemiologische Krise überraschte die Redaktion des „Tagesspiegels“ noch bevor die Bundesbehörden Einschränkungen ankündigten: Anfang März infizierte sich ein Mitarbeiter der Zeitung mit dem Coronavirus. “Er lag wochenlang auf der Intensivstation“ erklärte von Marschall. Er gab mit Besorgnis zu, dass der Kollege vor zwei Monaten noch um sein Leben gekämpft habe. Glücklicherweise wird er bald wieder in der Redaktion zurück sein. Damals wurde beschlossen, das Büro der Zeitung sofort zu schließen, und die Redaktion wechselte zur Fernarbeit.
Während der Heimquarantäne sieht die Tätigkeit der „Tagespiegel“-Redaktion ganz anders aus. Zunächst einmal gibt es keine Plattform für Dialog, Meinungsaustausch und Argumente. Früher hatten die Kollegen und Kolleginnen solche Möglichkeiten auch während Zigarettenpausen, die als eine wichtige Informations-Börse galten. Dies ist nicht das einzige Problem der Redaktion während der Pandemie. Sie hat drei Monate lang keine Veranstaltungen und Konferenzen organisiert und auch keine Büroräume vermietet. Der Lockdown zeigte, wie viele Faktoren das Funktionieren der Zeitung und ihre finanzielle Stabilität beeinflussen.
Von Marschall freute sich, dass die „Tagespiegel“-Redaktion einen deutlichen Anstieg der Anzahl der digitalen Zugriffe verzeichnet hat. „Die Corona-Krise erleben wir beim Tagesspiegel in Berlin als einen bittersüßen Triumph des Journalismus“, sagte er. Verglichen mit der durchschnittlichen Anzahl der Zugriffe vor der Epidemie, die bei einer Million pro Tag lag, waren es während der Epidemie zwei, drei oder vier Millionen. Dies ist auf das wachsende Interesse an den Nachrichten über Einschränkungen, die Zahl der Infizierten und Methoden zum Schutz vor Infektion zurückzuführen. Von Marschall verweist auf die guten Ergebnisse seines Redaktionsteams, das an der Spitze der deutschen Regionalzeitungen steht. Seit der Lockerung der Einschränkungen nimmt das Interesse am Coronavirus allmählich ab, was die Journalisten des „Tagesspiegels“ vor neue Herausforderungen stellt und sie zwingt, ein breites Spektrum regionaler und internationaler Themen zu behandeln. In der Redaktion werden derzeit neue Wege zur Steigerung der finanziellen Einnahmen getestet. Christoph von Marschall hält die Zukunftsaussichten für den „Tagesspiegel“ für gut. Die Anzahl der digitalen Abbos steige nämlich schneller als vor der Krise, und die von professionellen Journalisten erstellten Inhalte sind durch hohe Qualität gekennzeichnet.
Magdalena Oskiera, Maciej Wacławik
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Christoph von Marschall ist promovierter Historiker und arbeitet als diplomatischer Korrespondent der deutschen Tageszeitung „Tagesspiegel“. Seine Reportage über Skierbieszów – ein Dorf in Zamojszczyzna, in dem Bundespräsident Horst Köhler während der deutschen Besatzung geboren wurde und dessen polnische Bevölkerung der Kolonisierung und Germanisierung zum Opfer fiel – wurde 2005 mit dem Deutsch-Polnischen Journalistenpreis ausgezeichnet. „Die Geschichte sollte keine Ausrede für fehlende Taten sein, und Untätigkeit ist für die EU ein größeres Risiko als die Angst vor großen Veränderungen“ – sagte Christoph von Marschall. Das Zitat spiegelt den Charakter seiner Karriere gut wider, da er sich mit der Geschichte und der aktuellen geopolitischen Lage auseinandergesetzt hat, wobei er nicht vergisst, dass diese beiden Faktoren miteinander verflochten sind. Seine Kenntnisse mehrerer Fremdsprachen erlaubten es ihm, die Realität in verschiedenen Teilen der Welt zu kommentieren: Mehrere Jahre lang arbeitete er als Korrespondent in den USA. Während dieser Zeit beschäftigte er sich u.a. mit dem Phänomen Barack Obama. Vor den Präsidentschaftswahlen 2007 schrieb er ein Buch mit dem Titel „Barack Obama: Der schwarze Kennedy“, der in Deutschland zu einem Bestseller wurde. Wenige Momente später veröffentlichte er die Biografie seiner Frau mit dem Titel „Michelle Obama. Ein amerikanischer Traum“. Sein letztes Buch: „Wir verstehen die Welt nicht mehr: Deutschlands Entfremdung von seinen Freunden“, bespricht die aktuelle deutsche Außen- und Europapolitik während der Trump-, Brexit- und der EU-Krise.