An der Grenze werden Stimmen laut

Die Hörfunk-Beiträge präsentierten in diesem Jahr ein äußerst ausgeglichenes, hohes Niveau und hatten eine recht vielfältige Thematik. Ein Überblick über die prämierten Beiträge bietet eine faszinierende Reise von den Zeiten des Zweiten Weltkriegs bis hin zur Gegenwart. In den dargestellten Geschichten verbinden sich die schwierigen Erfahrungen der Generationen mit den ausdrucksvollen Stimmen der einzelnen Personen und tragische Ereignisse verflechten sich mit Freude und Hoffnung.

Gewonnen hat der Beitrag „Życie po ucieczce Ukrainki i Ukraińcy w Polsce / Leben nach der Flucht – Ukrainerinnen und Ukrainer in Polen“. Während der feierlichen Gala, die am 15. Juni im Lebuser Theater in Zielona Góra stattfand, wurde der Preis dem Autor und der Autorin des Projekts, Ernst-Ludwig von Aster und Anja Schrum, von Michael Elgaß überreicht. „Durch den Einsatz von stimmungsvollen Geräuschen, Originaltönen und bildhaften Beschreibungen gelingt es, die Hörerinnen und Hörer mitzunehmen in die Gefühlswelt von Geflüchteten und Helfenden. Und dabei werden auch kritische Töne und Ansichten nicht ausgespart, wie etwa die versprochene aber oft ausbleibende finanzielle Unterstützung des Staates für die Helfer oder überlastete Sozialsysteme, Krankenhäuser und Schulen“, betonte die Jury. Ausschlaggebend für den Sieg war „eine komplexe Sicht, die verschiedene Perspektiven berücksichtigt“.

Der preisgekrönte Beitrag behandelt die aktuelle, schwierige Thematik des Kriegs in der Ukraine. Er beschreibt das Drama der Menschen, die aus der angegriffenen Heimat fliehen. Die Hörer*innen lernen die Geschichten von Mariya und Daria kennen, die einen Zufluchtsort bei polnischen Familien gefunden haben. Diese individuellen Schicksale dienen als Ausgangspunkt, neue Probleme aufzuzeigen, mit denen sich die polnische Gesellschaft bereits seit über einem halben Jahr auseinandersetzt. Polen hat EU-weit die meisten ukrainischen Geflüchteten aufgenommen. Die Inflation und Energiekrise sind nur der Anfang von langfristigen Herausforderungen, die dieses Land nach dem russischen Angriff zu bewältigen hat. Das Ende bietet jedoch den Hörer*innen Hoffnung: „Wir sind eine gespaltene Gesellschaft, aber die Unterstützung der Geflüchteten vereint uns“, fasst eine der polnischen Volontärinnen, der Beitragsprotagonistinnen, zusammen.

Das Thema der Flucht aus politischen Gründen kommt ebenfalls im nominierten Beitrag „Mężczyzna z tatuażem / Ein Mann mit Tätowierung“ von Jolanta Rudnik auf. Die Journalistin erinnert an die Geschichte von Franciszek Piesik, einem Polen, der während des Kalten Kriegs und Eisernen Vorhangs versuchte, nach Westberlin zu fliehen. Der Hauptprotagonist lebte in der Region Pommern, unmittelbar an der deutsch-polnischen Grenze. Entschlossen suchte er nach einem Weg zum besseren Leben in den Zeiten, in denen die Berliner Mauer den Ostblock von der demokratischen Welt des Westens trennte, und seine dramatische Flucht bleibt bis heute ein Geheimnis. „Wir müssen daran denken, dass nicht so lange her, vor nur wenigen Jahrzehnten, Polen diejenigen waren, die aus ihrem Land flohen und die Grenze illegal überquerten, weil sie in die freie Welt wollten“, betonte die Beitragsautorin, und diese Botschaft erhält angesichts aktueller Ereignisse eine besondere Bedeutung.

Zu den weiteren prämierten Arbeiten gehörte ebenfalls eine Reportage von Michael Ernst – dem Journalisten des Deutschlandfunks – des ersten deutschen Hörfunkprogramms. Sein Beitrag unter dem Titel „Unterwegs auf den Spuren von Olivier Messiaen im deutsch-polnischen Grenzland“ erzählt von einem modernen Zentrum der Erinnerung und Begegnung – Meetingpoint Music Messiaen – in Görlitz. Hier wird an den hervorragenden französischen Komponisten – Olivier Messiaen – erinnert, der in den Jahren 1940-41 als Gefangener des dort errichteten Kriegsgefangenenlagers sein berühmtes „Quartett auf das Ende der Zeit“ uraufführte. Der Initiator der Schaffung dieses Raumes – Albrecht Goetze – ließ sich von seinem Credo leiten, „aus jungen Menschen starke Persönlichkeiten zu machen. Auch mit Hilfe von Kunst und Musik“. Das genannte „Quartett“ erklingt hier jährlich am 15. Januar, zu jedem Jahrestag seiner Uraufführung.

Michael Olmer stellt dagegen das Projekt „80 Jahre nach der Shoah – Mit Onkel Chaim auf Spurensuche in Polen“ dar. In dem Beitrag wird das Thema der Massenmorde an Juden während des Zweiten Weltkriegs wieder aufgegriffen. Olmer erzählt eine Geschichte seines nach Jahren wiedergefundenen Onkels Chaim, des Juden aus Sosnowiec, der den Holocaust überlebte und sich in England niederließ. Ihre Wege überschnitten sich zufällig. Der Protagonist fand auf dem Schreibtisch seines Vaters eine Karte von Chaims Nichte und konnte sich dadurch mit seinem Onkel in Verbindung setzen, zu dem es seit Jahrzehnten keinen Kontakt gab. Aus dieser Begegnung entstand eine wichtige Reportage. Chaim gehört zu den letzten Überlebenden der Vernichtung. Der Autor begleitet seinen Onkel nach Polen und spricht dabei über die Verbrechen der Nationalsozialisten an den Juden.

Und „Der mit den Glocken spricht“ ist wiederum eine rührende Erzählung von einem Campanologen – Forscher und Liebhaber von Glocken, Marcel Tureczek. Der Autor des Beitrags, Cezary Galek, nimmt uns zum Dorf Wyszanowo in der Nähe von Międzyrzecz mit und trifft dort den Protagonisten seiner Erzählung. Tureczek nimmt Glocken auf eine äußerst interessante Art und Weise wahr, schaut sie zärtlich an, und betrachtet sie wie Artefakte mit Seele, um die man sich kümmern sollte. Er erzählt ebenfalls von der Bedeutung, die diese Gegenstände in der Tradition und in den Herzen der Angehörigen einer Gemeinschaft sei es auf dem Land oder in der Stadt haben können. Er zeigt schließlich auch den technischen Hintergrund der Arbeit eines Glockenforschers, spricht von den Schwierigkeiten, auf Türme zu steigen, die oft vernachlässigt sind. Er erinnert auch an Geschichten, die sich aus den Inschriften herauslesen lassen, mit denen die Glocken verziert sind. Interessant ist, dass Tureczek eben in Zielona Góra Geschichte studierte und hier, in den Zeiten seiner wissenschaftlichen Arbeit, seine außergewöhnliche Leidenschaft geboren wurde. In den Erzählungen des Campanologen erhält die Glocke das Herz und die Seele, aber auch die Stimme, die das Zeugnis von der lokalen Geschichte ablegt.

Marta Rebzda und Waldemar Modestowicz, die Preisträger aus dem vergangenen Jahr, kommen dieses Jahr mit dem Dokumentarhörspiel „To słowo / Dieses Wort“ zurück. Der Hintergrund für die geschilderten Ereignisse ist die Aussiedlung von Polen in Zamojszczyzna im Jahre 1943 im Rahmen einer Werwolf-Aktion. Die Protagonisten dieser Geschichte sind Marian und Stanisław Mulawa, die damals erst wenige Jahre alt waren. Sie schafften es, die Deportation und den Aufenthalt in einem deutschen Übergangslager in Zwierzyniec zu überleben. Die Gebrüder überlebten dank der Hilfe von Róża und Jan Zamoyski. Die Ehegatten unternahmen riskante Verhandlungen mit den Reichsmachthabern über die Entlassung der Kinder aus dem Lager in Zwierzyniec. Denjenigen, die gerettet werden konnten, baten sie die Zuflucht. Durch ihre heroische Haltung konnten die Zamoyskis etwa vierhundertsechzig Menschen das Leben retten. An der im großen Stil umgesetzten Produktion nahmen berühmte polnische Schauspieler (u. a. Danuta Stenka, Leon Charewicz und Anna Dereszowska) teil, und die beunruhigende Hörspielmusik wurde von Piotr Moss komponiert. In diesem verbalen und musikalischen Poem haben die Autoren auf einen fundierten Dokumentarhintergrund nicht verzichtet. Mit den zitierten Zeugenaussagen sowie den Texten der deutschen Befehle und Ansprachen wird die Authentizität der Geschichte aufgebaut. „Dieses Wort – das ist die Aussiedlung“, sagt Modestowicz. „Unsere Geschichte ist zeitlos, aber wir wollen hoffen, dass sie sich nie mehr wiederholt“.

In den prämierten Beiträgen kommen immer wieder Grenzmotive auf – und es geht hier nicht nur um die tatsächliche deutsch-polnische Grenze. Die Protagonisten setzen sich mit Grenzerfahrungen auseinander und ihre Schicksale balancieren zwischen Leid und Freude. Die erzählten Geschichten beweisen auch, dass zum glücklichen Ende Mut führt, der oft erfordert, den Rubikon zu überschreiten. Der preisgekrönte Beitrag zeigt, wie Gemeinschaft und gegenseitige Unterstützung über jede Grenze Brücken schlagen können. Kurz gesagt – es lohnt sich, sich da festzuhören.

Agnieszka Sokołowska und Lucyna Sycz