Thomas Urban, der Polen-Korrespondent der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG und Autor des Fußballbuches u.a. „Schwarze Adler, weiße Adler” und der TVP-Sport-Kommentator Piotr Sobczyński rekapitulieren die gerade zu Ende gegangene EM 2012. Beide wurden in Einzelinterviews befragt. Um aber den polnischen bzw. den deutschen Blick besser miteinander vergleichen zu können, haben wir die jeweiligen Antworten untereinander aufgelistet. Wir haben die deutsche Fassung leicht gekürzt.
von dem Deutsch-Polnischen Portal Point
Point: Sind Sie mit der EM zufrieden?
Thomas Urban: Ja, sogar sehr. Das war ein sehr gut organisiertes Turnier ohne ernsthafte Vorkommnisse. Das, was sich vor dem Spiel Polen-Russland abgespielt hat, war nur eine Randerscheinung, die von den internationalen Medien aufgeblasen worden ist. Die EM war hervorragend und das sowohl fußballerisch also auch organisatorisch.
Piotr Sobczyński: Ja, ich bin zufrieden. Das gerade beendete Turnier hat mir sehr gefallen. Das sportliche Niveau war hoch. Denn lediglich zwei Spiele in der Play-off-Phase waren in der regulären Spielzeit torlos und so musste das Elfmeterschießen entscheiden. Wir sahen eine Reihe brillanter Spiele, es herrschte eine unvergessliche Atmosphäre auf den Tribünen, in den Städten und den Fanmeilen– allerorten war ein enormes Interesse am Turnier zu spüren. Die EM ist also rundum geglückt.
Point: Die internationale Presse ist sich unisono einig, dass hinter uns eine EM der Rekorde liegt. Nach Polen kamen über 650.000 Gäste aus 110 Ländern. Die Warschauer Fanmeile wurde von gut einer Million Fußballanhängern besucht und laut UEFA haben weltweit rund 250 Millionen Zuschauer das EM-Finale verfolgt. Woher rührt dieser Erfolg? Was haben die Polen besser gemacht?
Urban: Diese Rekorde rühren teilweise aus dem sich verändernden Charakter der Europameisterschaften. Gegenwärtig haben wir im Turnier 16 Mannschaften, früher waren es nur acht Teams, die EM hat also zwangsläufig eine größere Reichweite. Noch vor gut 15 Jahren war die Euro für die Medien kein wichtiges Ereignis. Heute aber arbeiten Journalisten rund um die Uhr daran, dieses „Event” aufzublasen und die neuen technischen Möglichkeiten verstärken dieses Phänomen zusätzlich. Dank dieser Medien infiziert das Fußballfieber alle, natürlich auch die Polen.
Sobczyński: Während der EM 2008 in der Schweiz und Österreich erlosch das Interesse nach dem Ausscheiden der Gastgeber-Mannschaften gänzlich. Die Begegnungen nach der Gruppenphase lösten keine Euphorien mehr aus. In Warschau aber verfolgten [in der Fanmeile, Anm. d. Ü.] rund 40.000 das Finale, also fast so viele wie im Stadion selbst, da waren die Polen aber schon lange aus dem Turnier. Schon deswegen kann die diesjährige EM als gelungener gelten, denn unsere Fanmeilen war bis zum Schluss voll.
Point: Nach dem Ausscheiden der Polen begrüßten die Fans ihre Nationalelf in der Warschauer Fanmeile mit Standing ovations und dem Schlachtruf: „Nic się nie stało” (Alles halb so wild). Ist das nicht eine Untertreibung?
Urban: Möglicherweise schoben die Fans die Schuld nur dem Trainer und dem Polnischen Fußballbund PZPN zu. Aber die Medien reagierten schon anders. Die Kommentare in der heimischen Sportpresse ließen keinen Zweifel daran, wer daran Schuld war. Versagt hat die ganze Équipe, also auch die Nationalmannschaft– hier sind sich alle Experten einig.
Sobczyński: Solche Formen der Fan-Euphorie und die Nic-Się-Nie-Stało-Rufe sind nach einem verlorenen Gruppenspiel natürlich eine Untertreibung, denn es ist nicht alles halb so wild! Die Leistung der Nationalmannschaft stellt zweifelsohne ein totales Scheitern dar und niemand kann dies als Erfolg bezeichnen. Das Spiel gegen Tschechien, also das Spiel um Alles oder Nichts, hätte man gewinnen müssen. Dem Spielverlauf war aber leider nicht zu entnehmen, dass es ein Konzept gab, wie der Gegner besiegt werden konnte. Das Spiel kann nämlich weder auf Glück beruhen noch auf dem Prinzip: Wir stürmen los, vielleicht klappt’s ja. Und was die Begeisterung der polnischen Fans angeht… Die haben sie sich für mich genauso verhalten wie die irischen Fan nach dem verloren 0:4 gegen Spanien. Erst haben sie ihre Mannschaft bis zum Schluss angefeuert und dann die ganze Nacht gefeiert. Diese Einstellung hat die Polen zutiefst beeindruckt und sie machten es den Iren nach. Und zwar haargenau so.
Point: Das schönste EM-Tor?
Urban: Hmm, das schönste schoss der Spanier David Silva gleich zu Beginn des Finales gegen Italien. Das ist konkurrenzlos!
Sobczyński: Ach, da gibt es einige. Aber am meisten hat mich im Finale das erste Tor der Spanier beeindruckt. Das war nicht zu halten, was für ein Tempo! Und so außergewöhnlich gespielt.
Point: Deutsche Medien schrieben ausführlich über Bildmanipulationen z.B. im Spiel Deutschland-Niederlande, als in einer Szene Joachim Löw einem Balljungen einen Streich spielte. Ist es vertretbar „Livebilder” auszustrahlen, die vorher ausgenommen worden sind? Ist das nicht ein Fall von Manipulation?
Urban: Das ist kompliziert. Betrachtet man es als Ganzes, dann hat es keinerlei Bedeutung, ob sich eine heitere Szene während des Spiels oder eine Stunde vorher zugetragen hat. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass hier ohne Zweifel eine Manipulation vorliegt. Allein schon deswegen kann man solch eine Praxis nicht akzeptieren. Die TV-Sender und die Zuschauer zahlen nämlich der UEFA Riesensummen für Live-Berichterstattung ohne Verzerrungen. Die Empörung der deutschen Medien und der deutschen Zuschauer ist für mich daher richtig.
Sobczyński: Das kann man schwerlich als Manipulation bezeichnen. Das ist eher ein bebildern der Liveübertragung mit heiteren Szenen, die tatsächlich satt gefunden haben und die man zeigen sollte. In Polen gab es dazu keine Debatte.
Point: Die nächste EM findet 2016 in Frankreich mit 24 Teams statt. Von überall vernimmt man Kritik. Woher kommt die Idee, die Anzahl der Mannschaften zu erhöhen?
Urban: Hier geht es um’s Geld. Mehr Mannschaften bedeutet höheren Gewinn, da es mehr Übertragungen geben wird, mehr Fans und mehr Marketingaktionen. Die Entscheidung wurde also aus rein kommerziellen Aspekten getroffen.
Sobczyński: Das ist simpel. Seit Beginn der 90ziger Jahre gibt es in Europa einen Zuwachs von Staaten. Die UdSSR und Jugoslawien brachen auseinander. Folglich gibt es eine Reihe neuer Nationalmannschaften, aber im Turnier gibt es nur 16 Plätze. Für die neuen Teams erhöht eine Erweiterung also die Chance einer Teilnahme.
Point: Wäre Polen in der Lage eine WM zu veranstalten?
Urban: 32 Teams das ist schon sehr viel. Während der EM spielten nur acht von 16 Mannschaften in Polen. Gemeinsam mit den baltischen Staaten, Tschechien und der Slowakei könnte es in vielen, vielen Jahren gelingen, die WM an der Weichsel zu organisieren. Gegenwärtig ist das aber eher ein schöner Wunschtraum.
Sobczyński: Lassen Sie uns erst die Kosten der letzten EM begleichen, danach kann man eine WM erwägen. Haben wir eine Chance? Bestimmt, aber wir dürfen nicht vergessen, dass der erste freie Termin auf das Jahr 2026 fällt. Hier muss man auch bedenken, dass wir mindestens zehn Stadien brauchen und nach der WM hätten wir nicht vier, sondern gleich zehn (Station-)Probleme.
Point: Wir danken Ihnen für das Gespräch!
Das Gespräch führte Dorota Katner Anfang Juli 2012. Übersetzung: Paul-Richard Gromnitza