Eröffnungsrede von Marek Prawda, dem Botschafter der Republik Polen in der Bundesrepublik Deutschland am 15. Mai 2012 um 9:45 Uhr.

„Tür an Tür in Europa“

Sehr geehrte Gastgeber, liebe Vertreter der Robert Bosch Stiftung, lieber Herr Professor Rogall, lieber Herr Direktor, ehrwürdige Gäste, sehr geehrte Damen und Herren,

bis Januar dieses Jahres war in Berlin die Ausstellung „Tür an Tür“  zu sehen, die der Geschichte der deutsch-polnischen Nachbarschaft gewidmet war. Sie betrachtete unsere Beziehungen durch das Prisma der Kunst, vor allem der modernen Kunst. Das allein schon zeigt, dass wir unsere gemeinsame Geschichte nicht nur rekonstruieren, sondern auch kommentieren. Die Ausstellung war  in gewisser Hinsicht eine Zeitreise, aber auch eine Reise zum besseren gegenseitigen Verständnis, das uns gestattet, gemeinsam die Vergangenheit auf eine etwas andere Art wahrzunehmen. Genau darüber möchte ich sprechen.

Ich möchte Ihnen drei meiner Schlussfolgerungen vorstellen, die ich aus dieser Ausstellung ziehe. Erstens: die deutsch-polnischen Beziehungen sind mehr als nur die Ereignisse des 20. Jahrhunderts.

Über die Ausstellung „Tür an Tür“ ist ein Dokumentarfilm entstanden, in dem ein Historiker sagt, dass „wir manchmal dazu neigen, die jahrhundertelangen deutsch-polnischen Beziehungen als ein Präludium des Zweiten Weltkrieges zu betrachten.“ Dabei gab es in unserer gemeinsamen Geschichte Jahrhunderte verschiedener, besserer und schlechterer, aber auch normaler Zusammenarbeit und europäischer Nachbarschaft. Wir haben viele Jahrhunderte hindurch in Frieden gelebt. Es war uns jedoch nicht immer bewusst, wie sehr unsere gegenseitige Wahrnehmung durch die Ereignisse des 20. Jahrhunderts geprägt ist. Die Ausstellung „Tür an Tür“ hatte unter anderem das Ziel, uns auch für andere Aspekte der deutsch-polnischen Nachbarschaft die Augen zu öffnen. Sie hatte außerdem die Absicht, sich mit Stereotypen auseinanderzusetzen und Mythen zu demontieren. Die Kuratorin Anda Rottenberg hat durch den Aufbau ihrer Ausstellung zu zeigen versucht, dass Polen eine recht lange Zeit hindurch keine Grenzen hatte. Wenn man keine Grenzen hat, die einen schützen, baut man einen Panzer aus Mythen auf. Deshalb hat Anda Rottenberg einen Teil der Werke hinter Gitter gestellt, in eine Art Käfig, um zu zeigen, dass es hier um die Frage geht, welche Funktion all diese Werke hatten. Eine solche Haltung in Polen war natürlich die Reaktion auf die Politik Preußens, das über viele Jahre hinweg die Überzeugung gefestigt hatte, dass das Land Polen und die Polen zu nichts taugen. Man kann also sagen, dass sich seit dem 18. Jahrhundert beide Völker in einen Käfig begeben und einen Dialog geführt haben, der auf zwei Monologen beruhte. Jedes hat im Grunde sich selbst zugehört. So ging das 130 Jahre lang. Ich denke, es gibt nur wenige so stark mythologisierte Beziehungen, wie es die deutsch-polnischen sind. Die Pointe der Ausstellung bestand in der Installation von Stanisław Dróżdż – vielleicht erinnern sich manche von Ihnen ja daran – eines geschlossenen Raumes mit dem Titel „Między/Zwischen”, in dem auf allen Oberflächen das Wort „zwischen“ stand, das sich aus scheinbar nachlässig verstreuten Buchstaben zusammensetzte. Wer dieses Ausstellungsobjekt betrat, war nicht mehr nur Besucher dieser Ausstellung, sondern Teil dieses Objektes. Dieses Werk steht als Metapher für die Komplexität der Beziehungen zwischen Menschen, Gruppen und Nationen. Es wollte den Besucher dazu anzuregen, das Paradoxe, aber auch die neuen Chancen der deutsch-polnischen Beziehungen wahrzunehmen. Ich hatte die Gelegenheit, Bundeskanzlerin Merkel und ihren Gatten durch die Ausstellung zu führen. Wir haben sehr viel Zeit bei dieser Rauminstallation von Stanisław Dróżdż verbracht und sind zu dem Schluss gekommen, dass die Geschichte immer ein äußerst wichtiges Element unserer Beziehungen sein wird. Wir haben heute zwischen Polen und Deutschland einen Raum, den wir endlich selbst füllen können, und das ist eine Herausforderung für uns. Ich bin der Meinung, dass darin das heutige Dilemma besteht, denn entweder begegnen wir uns innerhalb alter Kulissen, in denen wir nur Gäste sind, und die uns Themen aufzwingen und unsere Pläne bestimmen, oder wir betreten neue Räume, deren Teil wir sind, und in denen wir unsere Aufgaben selbst festlegen. Im ersten Falle, wenn wir alte Kulissen betreten, durchbrechen wir Mythen und Stereotypen, entwickeln bis zum Abwinken Projekte zur deutsch-polnischen Versöhnung, freuen uns darüber, dass wir endlich in der Lage sind zusammenzuarbeiten, und wollen allen mit der Tatsache imponieren, dass wir uns gut verstehen. Im zweiten Falle – 20 Jahre nach Unterzeichnung des Nachbarschaftsvertrages – reifen wir dazu heran, gemeinsame Pläne zu haben. Damals haben wir darüber nachgedacht, ob Polen und Deutschland in Europa zusammenarbeiten können, heute stellen wir uns die Frage, was Polen und Deutschland gemeinsam für Europa tun können. Denn wir können nicht ewig anderen damit imponieren, dass wir uns nicht mehr prügeln und keine Feinde mehr sind. Wir fragen uns, was wir für unser Umfeld tun können. In Polen sagt man: Wenn du etwas für dein Land tun willst, musst du gegen die Geografie ankämpfen. Nicht nur die Geschichte war für uns fatal, sondern auch die Geografie. Oft beneiden uns Diplomaten anderer Länder: „Ihr habt zumindest eine gemeinsame Grenze mit Deutschland.“ Früher haben wir geantwortet: „Wir können das nicht empfehlen.“

Aus heutiger Sicht würden wir nicht mehr so antworten. Dieser Haltungswandel hat sich auch in mir vollzogen. Ich bin der Meinung, dass die Ausstellung „Tür an Tür“ uns einen Raum gezeigt hat, den wir nun selbst bewirtschaften müssen. Deshalb möchte ich an die Elemente dieses Raumes und an das Instrumentarium, über das wir verfügen, sowie an die Bedeutung dieses neuen „Zwischen“ für Polen und Deutsche anknüpfen. Es ist uns klar, dass wir in höherem Maße unsere kollektive Identität über die Ereignisse der vergangenen zwanzig Jahre definieren, trotz der Probleme, trotz einer sehr schwierigen internen Debatte und verschiedener Bewertungen der Transformation.

Ich denke, dass das Wirtschaftswachstum Polens von fast 16 Prozent innerhalb der vergangenen Jahre trotz der Krise in Europa, und somit die Annäherung Polens an den europäischen Durchschnitt, bereits bedeuten, dass wir in einer vollkommen anderen Wirklichkeit leben. Davon hat unter anderem Johannes von Thadden gesprochen. Früher wurde Polen als Problem für die EU wahrgenommen, inzwischen spricht man von Polen als ein Teil der Lösung für die Probleme der EU. Der Empfänger von EU-Fördergeldern entwickelt sich nach und nach zum Geberland, selbst wenn das lediglich symbolisch ist. Ich habe einmal mit einem Spezialisten der Ratingagentur AT Kearney gesprochen, der mir sagte, dass das Schlüsselkriterium für den Aufstieg Polens vom 22. auf den 6. Platz auf der Liste derjenigen Länder, in die es sich zu investieren lohnt, die Teilnahme Polens an den Hilfspaketen für Island, Moldawien und Lettland war. Heute sprechen wir von Einlagen in den Internationalen Währungsfond, und das ist in der Regel wichtig für solche Bewertungen. Es gibt auch Beispiele dafür, dass Polen Ideengeber für bestimmte Lösungsvarianten ist. Es ist etwas anderes, Soldaten zu schicken, und es ist etwas anderes, Ideengeber zu sein. Es ist etwas anderes, Teil einer blockierenden Koalition zu sein, und es ist etwas anderes, zu einer Gruppe von Ländern zu gehören, die etwas aufbauen. Wenn ich mit deutschen Partnern darüber spreche, was sich verändert hat, ist die wohl interessanteste Schlussfolgerung folgende: Polen hat etwas mehr Bedeutung bekommen, nicht aufgrund historischer Verdienste, sondern aufgrund einer spürbar konsequenten Finanz- und Wirtschaftspolitik. Das Beispiel Polen ist für Deutschland attraktiv geworden im Hinblick auf den Kampf um die Einführung von finanzieller Disziplin in der Eurogruppe und in der gesamten EU. Wir alle wissen, dass trotz der Empfehlungen der Lissabon-Strategie in vielen Ländern der EU bedenkenlos die Ausgaben für öffentliche Projekte erhöht wurden, während die Einnahmen nicht gestiegen sind, und dass dieses Defizit mit EU-Mitteln finanziert wurde. Heute sehen wir, dass die Länder, die keine Wachstumsprojekte hatten, sondern nur gespart haben, ein Wachstum zu verzeichnen haben. Deshalb wird heute das Rufen nach Wachstum von uns allen mit einer gewissen Skepsis aufgenommen. Wenn dieses Wachstum so aussehen soll wie die Politik in manchen Ländern, wissen wir bereits, wie das ausgeht. In Deutschland und in Polen sagt man, dass die beste Wachstumspolitik die Förderung der Produktion sei. Ohne den Druck des Marktes werde es keine wirklichen Reformen geben, ohne strukturelle Reformen werde es kein Vertrauen der Märkte geben. Aus meiner Sicht ist die deutsche Debatte sehr transparent, man spricht von einer Liquidierung der Barrieren auf dem Markt und bei der Produktion und von flexiblen Märkten. Ich würde noch die Abschaffung der Heuchelei hinzufügen – schließlich hatten wir schon oft die Situation noch vor der Öffnung der Märkte, dass 7.000 polnische Bauarbeiter von 7.000 Beamten beaufsichtigt wurden, die kontrollierten, ob bei ihrer Einstellung alle Formalitäten erfüllt wurden. Gleichzeitig arbeiteten 80.000 Polinnen in der Kinderbetreuung und das hat niemanden gestört.

Vor ein paar Tagen fand der Besuch des Senatsmarschalls statt. Während eines Gesprächs mit dem Vorsitzenden des Bundestages Lammert gab es im Grunde nur ein einziges Thema: Lammert fragte, ob Polen jetzt angesichts des Stimmungswandels in Europa in Richtung Lockerung der Stabilisierungspolitik ausreichend Kraft haben werde, diesen Weg, auf dem es sich derzeit befindet, weiterzugehen. Ich will damit sagen, dass Polen, das kein so bedeutsames Land in Europa ist, und auch keine Großmacht, in gewissem Sinne zu einem Bezugspunkt für all diejenigen wird, die eine neue Ordnung bauen wollen und hoffen, dass Polen diesen Weg nicht verlässt.

Ein drittes Beispiel: Nach dem Systemwandel 1989 hat sich Polen für eine verantwortungsvolle Finanzpolitik entschieden. Ich möchte daran erinnern, wie Leszek Balcerowicz zu Beginn der Neunzigerjahre in Bonn war und von seinen Erfahrungen erzählt hat. Er sagte, dass „wir zwei Wege hatten. Der eine war riskant, der andere aussichtslos.“ Damals begannen die Gespräche über die Schuldenbremse, die, wie Johannes von Thadden bereits erwähnt hat, in unserer Verfassung steht. In Deutschland wurde die Defizitgrenze 2009 eingeführt, doch dahinter steckt der gleiche Gedanke. Ich war kürzlich bei Feierlichkeiten anlässlich des 50. Geburtstags des deutschen Außenministers. Dort sprach einer der führenden Liberalen über die Schuldenbremse als einen der größten Erfolge der Liberalen und als eine Idee, die Deutschland an Europa weitergeben will. Diese Aussage rief den größten Applaus unter den 3.000 Gästen hervor, und ich war stolz darauf, dass wir in Polen diesen Mechanismus dank Leszek Balcerowicz bereits seit fünfzehn Jahren testen. Wir mussten einmal eine Abhandlung vorbereiten, die erklären sollte, wie die Schuldenbremse funktioniert, welche Mechanismen in Bewegung gesetzt werden bei einer Verschuldung von 50 Prozent des Bruttoinlandsproduktes und welche bei 55 Prozent, welche Warnschwellen es gibt und ob ein Automatismus für Sanktionen existiert. Heute ist in aller Munde, wie ein solcher Automatismus garantiert werden kann. Ich sprach damals davon, dass bei 60 Prozent Verschuldung dem Finanzminister und der Regierung die „Guillotine“ droht. Das wurde mit großer Freude aufgenommen, weil das bedeutete, dass es ein Land gibt, das die finanziellen Auflagen ernst nimmt. Umso mehr als man Polen keiner besonderen Kultur der Politik für finanzielle Stabilität verdächtigt hatte. Deshalb bin ich der Meinung, dass der Glaube an Polen nicht die stärkste Seite der Deutschen ist. Ich erinnere mich auch an die Debatten zu Beginn der Neunzigerjahre, als Balcerowiczs Vorschläge mit viel Skepsis und Distanz aufgenommen wurden, weil man sich vor Chaoswirtschaft fürchtete. Damals meinte man, es sei besser, sich schrittweise und langsam an die Durchführung von Reformen zu wagen. Ganz anders sahen das die USA. „Ihr seid großartig“, sagten die Amerikaner, und wir haben ihnen geglaubt. Obwohl wir natürlich unvergleichlich mehr mit Deutschland gemein hatten.

Ein letztes Beispiel ist die polnische EU-Ratspräsidentschaft. Wir haben die Präsidentschaft in einem Moment übernommen, da alle schlecht gelaunt waren und viele am Sinn des europäischen Projektes gezweifelt und uns gefragt haben, ob Europa überhaupt noch eine Antwort und eine Lösung oder ob Europa nur noch ein Problem ist. Europa hat uns Lösungen gebracht, wir haben ein solidarisches Europa erlebt, deshalb haben wir uns während der Präsidentschaft um eine optimistische Antwort in einer pessimistischen Zeit bemüht. Wir haben stabilisierende Aktivitäten in der Eurogruppe unterstützt. Viele meiner deutschen Kollegen waren der Meinung, dass der „Sixpack“ der sichtbarste Erfolg der polnischen Präsidentschaft ist, der zu einer besseren Budgetdisziplin geführt hat, und im Fiskalpakt, um den sich heute Schlachten geliefert werden, festgeschrieben wurde. Es ist eine neue Solidaritätslogik entstanden: Vertrauen und Kontrolle. Aber es  genügt nicht, immer zu sagen: „Wir brauchen mehr Solidarität, wir brauchen mehr Europa.“ Wir müssen sagen, was wir besser machen können, wenn wir mehr Europa haben oder mehr Solidarität, die jedoch nicht mit Solidität verwechselt werden darf.

Ein zweites solches Element, das der Feder der polnischen EU-Ratspräsidentschaft entstammt, sind die polnischen Bemühungen darum, Spaltungen in der Europäischen Union vorzubeugen, sowie Widerspruch gegen parallele Entscheidungsstrukturen und gegen die Gründung separater Institutionen. Das ist allgemein bekannt. Wir haben einfach ein Risiko gesehen, das entstehen könnte, wenn zehn Länder, die nicht in den Kreis der engeren Zusammenarbeit aufgenommen werden, eine separate politische Identität gründen. Das könnte eine sehr gefährliche Tendenz sein. Was bedeutet das für Polen und Deutschland? Ich denke, dass die EU-Ratspräsidentschaft Polens gleichzeitig gezeigt hat, dass Polen und Deutschland sich in der Debatte zum Thema Fiskalpolitik und Bewirtschaftungsregeln von ähnlichen Instinkten lenken lassen. Außerdem hätten beide Länder viel zu verlieren, wenn es zu einem Fiasko der europäischen Integration käme: Deutschland – weil es zu stark ist, Polen – weil es zu schwach ist. Das heißt, Deutschland, weil es zu stark ist, um sich ohne die europäische Einbindung wohl fühlen zu können, Polen ist zu schwach – trotz allem – um selbständig seine Interessen durchsetzen zu können, und um sich ohne die Institution der EU sicher zu fühlen. Ich denke, dass es auch hier ein Element der gemeinschaftlichen Interessen beider Länder gibt – Deutschland hat in der Europäischen Union „Übergewicht“ und muss dieses maskieren. Das deutsch-französische Tandem in der EU ist, wie wir wissen, unerlässlich für die Lösung von Problemen, aber dieses Problemlösungstandem kann selbst zu einem Problem werden. Schon heute kann die Zusammenarbeit beider Länder Europa – ob berechtigt oder nicht – zu stören beginnen und kritische Debatten hervorrufen. Polen ist derzeit Teil einer neuen europäischen Wirklichkeit und als solche kann es für den Erfolg des europäischen Projektes eine Rolle spielen. Ich denke, dass Deutschland seine eigene Antwort hat auf die Frage, wie wichtig die Zusammenarbeit mit Polen ist, und welchen Sinn Polen in Europa hat. Und ich denke auch, dass viele große europäische Länder keine solche Antwort haben, die sie davon überzeugen würde, dass Polen gebraucht wird. Daraus ergibt sich, dass wir entweder für uns eine solche Rolle unter denen finden, die zumindest ein wenig Verantwortung für die Zukunft der EU übernehmen, oder wir verlieren an Einfluss. Ich denke, dass die Länder, die dabei sind aufzuholen, für uns keine Alternative sind. Das ist zwar der natürliche Hintergrund Polens, aber Polen sollte sich nicht in die defensive Rolle drängen lassen. Polen hat ein gewisses reformatorisches Kapital und all die Vorzüge, von denen ich eben gesprochen habe. Doch eine gemeinsame Aufbauarbeit bedeutet eine enge Zusammenarbeit mit Deutschland. An dieser Stelle muss man natürlich in der Lage sein klarzumachen, dass Polen mehr ist als nur ein Assistent Deutschlands. Denn das ist der Vorwurf, der in der Innenpolitik und immer häufiger auch in Europa laut wird. Ich bin der Meinung, dass Polen daran glauben darf, dass es mit eigener Stimme spricht. Polen hat keine seiner Reformen nach jemandes Vorgaben gemacht. Die Östliche Partnerschaft wurde auf Anregung Polens und Schwedens beschlossen – Polen ist also in der Lage, auch ohne Deutschland zu agieren, und das ist schließlich für uns alle eine wichtige Chance, und ich denke, dass das in Berlin gut aufgenommen wurde. Ich will damit sagen, dass die deutsch-polnische Annäherung an Substanz gewinnt, die für diese Annäherung spricht. Es entsteht eine Chance zur Rationalisierung der Sprache, mit der wir uns verständigen und dank derer wir eine gemeinsame Zukunft in neuen Kulissen aufbauen können. Es ist leicht zu kritisieren und nicht zu sehen zu wollen, was eigentlich dieser Raum „dazwischen“ ist. Je mehr europäische Themen es gibt, desto weniger provinziell sind unsere Beziehungen.

Zum Abschluss möchte ich mich zur Krise in Bezug auf das europäische Projekt äußern. Wir haben es mit einer Renaissance der politischen Vorurteile, des Populismus und antieuropäischer Stimmungen zu tun.

Wir wissen, dass Europa an Vertrauen gewinnt, wenn es zeigt, dass es konkrete Probleme lösen kann, und nicht nur Motti wie „mehr Europa, mehr von allem“ verkündet. Europa braucht auch einen neuen Impuls für das Gemeinschaftsgefühl, es braucht Begründungen und eine Gründungsdebatte. Anders gesagt, es wird eine neue europäische Erzählung gebraucht, die das Friedensprojekt nicht für ungültig erklärt, denn das ist wichtig und wird immer wichtig bleiben, aber jede Generation muss ihre eigene Erzählung haben, die die ursprüngliche ergänzt. Wenn wir die Menschen von weiteren Schritten zur Integration überzeugen wollen, oder davon, später in Rente zu gehen, müssen wir ihnen erklären, warum das so wichtig ist, im Namen welcher Werte wir dieses Projekt gemeinsam durchführen wollen, ob es einen übergeordneten Wert gibt, der dafür spricht, in solchen Fällen zusammenzuhalten. Die Herausforderungen angesichts der globalen Bedrohungen sind offensichtlich. Aber ohne ein solches kulturell-gemeinschaftliches Bewusstsein ist es schwieriger, die Krise zu definieren. Heute definieren die, die nehmen, die Krise anders als die, die geben, borgen und finanzielle Hilfe leisten. Ohne ein tiefes Gefühl der Gemeinschaft wird es schwieriger, ein gemeinsames Verständnis für die aktuellen Herausforderungen zu finden. Aus der Perspektive unsere Länder ist eine solche europäische Erzählung die Wende im Jahr 1989, die friedliche Revolution, wie man sie in Deutschland nennt. Ich weiß, dass das freiheitliche Pathos aus der Mode gekommen ist, aber der Beitritt zur Europäischen Union war für uns schließlich eine Rückkehr in die Freiheit. In eine Freiheit im Sinne der Möglichkeit zur selbständigen Gestaltung der Wirklichkeit. Einer Freiheit nicht im romantischen Sinne, sondern sehr konkret und pragmatisch. Die  Freiheit, schwierige ökonomische Entscheidungen zu treffen. Ein Test für eine so verstandene Freiheit ist beispielsweise die Rentabilität polnischer zehnjähriger Staatsanleihen.

Darüber habe ich auch mit Bundespräsident Gauck vor seinem Besuch in Polen gesprochen. Wir haben uns viel Zeit genommen für die Frage, in welcher Form der Bundespräsident von seinen Erfahrungen mit der Vergangenheit sprechen soll. Es ist allgemein bekannt, dass ihm die Freiheitsrhetorik ausgesprochen wichtig ist, sie wird aber oft wegen ihrer angeblichen Leere kritisiert. Doch für uns ist sie nicht leer, sie bedeutet, die Chance zur selbständigen Gestaltung der Wirklichkeit zu nutzen, was dazu führt, dass Polen an Glaubwürdigkeit auf den Finanzmärkten gewinnt, dass es verhältnismäßig günstig Geld leihen kann, weil die Märkte immer mehr Vertrauen zu ihm haben, schließlich weiß man, dass die Märkte kein Gewissen haben. Dieses Beispiel dafür, wie Freiheit gut angewendet wird, ist eingetreten, als wir schon aufgehört hatten, daran zu glauben, dass es möglich ist. Schließlich haben wir nicht vergessen, dass Polen für die jüngere Generation eine Art Wartesaal war, sprich etwas Unwirkliches – du musst ausreisen, damit dein Leben beginnt, Sinn zu haben, damit etwas passiert. Aber die Erfahrung des Jahres 1989 ist auch ein Beweis dafür, dass man gemeinsam erfolgreich sein kann. So wie unsere Region Mittelosteuropa. Das war der Erfolg der gegenseitigen Abhängigkeit. Ebenso können wir heute erfolgreich sein. Und darin liegt ein interessanter deutsch-polnischer Aspekt.

Im vergangenen Jahr haben im Oktober in Leipzig die Feierlichkeiten zum Jahrestag der Demonstrationen am 9. Oktober stattgefunden, der großen Demonstrationen, die im Grunde die Wende in der Revolution in der ehemaligen DDR hervorgerufen haben. Bei dieser Gelegenheit habe ich Roland Jahn getroffen, den derzeitigen Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes. Leipzig hat diese Feierlichkeiten zum ersten Mal mit Polen und Danzig gemeinsam veranstaltet. Roland Jahn sagte damals: „Dort auf dem Ring, also auf dem Straßen von Leipzig, ist die Solidarność mit uns marschiert, denn die Erfahrung der Solidarność von 1980 war für uns ein Schlüsselerlebnis.“ In Polen erinnern wir uns daran, dass auch die Gottesdienste in der Nikolaikirche für uns ausgesprochen wichtig waren, denn damals, im Sommer 1989, war uns klar, dass wir keine Insel bleiben können, dass wir nur Erfolg haben werden, wenn anderen das auch gelingt. Deshalb haben wir, als in der Nikolaikirche gebetet wurde, ebenfalls gebetet, so wie die Solidarność in Leipzig mitmarschierte. Markus Meckel kann darüber viel erzählen. Damals entstand zum ersten Mal eine Schicksalsgemeinschaft – Roland Jahn war damals übrigens der Student, der 1981 mit einer Solidarność-Fahne durch Jena fuhr, wofür man ihn natürlich einsperrte. Ich will damit sagen, dass wir aus diesen gemeinsamen Erfahrungen unserer beiden Länder mehr schöpfen können, nämlich für diese Debatten, die wir heute so sehr brauchen. Ich habe heute mit Frau Eggert aus Schwerin gesprochen, die zu einer Gruppe von DDR-Flüchtlingen gehörte, die im Sommer 1989 über Warschau in den anderen deutschen Staat ausreisen wollten. Frau Eggert träumte von einem Leben in einem freien Land. Ihr Traum war auch Teil meines Traumes. Polen und Deutsche hatten nicht immer zur gleichen Zeit die gleichen Träume. Sie hatten zur gleichen Zeit unterschiedliche Erlebnisse, und es waren nicht die gleichen Träume, die in Erfüllung gingen.

In der Ausstellung „Tür an Tür” in Berlin waren viele Beispiele dafür zu sehen, auf welch ähnliche Weise wir diese Zeit in der Kunst abgebildet haben – da waren natürlich die Demonstrationen in Leipzig, in Warschau, in Danzig, aber es war auch zu sehen, wie Künstler über diesen Zeitabschnitt in beiden Ländern erzählen. Ich denke, dass dies ein Beispiel für die Überwindung der fatalen Ungleichzeitigkeit ist – das Jahr 1989 ist eine Chance für die Renaissance einer gewissen Gleichzeitigkeit. Bisher haben wir zur gleichen Zeit über anderes gesprochen, wenn die einen mit der Vergangenheit abgerechnet haben, schauten die anderen nach vorn und umgekehrt, und so haben wir uns oft nicht verstanden. Deshalb ist es etwas Grundlegendes, in den Ereignissen von 1989 einen Teil einer Zusammenarbeit zu sehen, einen Teil einer europäischen Schicksalsgemeinschaft mit einem sehr deutlichen deutsch-polnischen Akzent. Timothy Garton Ash hat einmal gesagt, dass Europa gebraucht wird, um sich vor den Barbaren vor dem Tor und den Barbaren in uns selbst zu schützen. Ich glaube, dass heute die Barbarei in uns schwerwiegender ist, damit meine ich alle EU-Missstände, zu denen wir fähig sind. Die Probleme in der Europäischen Union haben interdependenten, internationalen Charakter, und dennoch machen die Politiker das, was ihnen leichter fällt, sprich sie ziehen sich in ihr Nationalgehäuse zurück. So entstehen Protektionismus und eine gewisse Bereitschaft, populistische Rezepte und Renationalisierung zu akzeptieren. Für Polen und Deutschland bedeutet Zusammenarbeit in den neuen Kulissen, von denen ich gesprochen habe, mit Sicherheit die Europäisierung einer gemeinsamen Agenda, ganz sicher eine symbolische Aufhebung der Ungleichzeitigkeit und die Bereitschaft, die Brille des Nachbarn aufzusetzen, wenn man die Ereignisse in Europa betrachtet. Und natürlich wäre es äußerst hilfreich, wenn die Polen nicht jede Woche kontrollieren wollten, ob die Deutschen ein gutes Gedächtnis haben, und die Deutschen nicht ausschließen würden, dass die Polen außer einem historischen Trauma einfach auch Ansichten haben.
Danke.