Ein wichtiger Teil der Diskussion war der Vergleich der aktuellen Situation mit früheren humanitären Krisen, die durch intensive Migrationsbewegungen verursacht waren. Die Diskussionsteilnehmerinnen und -teilnehmer betonten, dass sich die Herangehensweise an die Flüchtlingsfrage in Polen stark verändert hat. Im Jahr 2015 lehnte das Land die Aufnahme von Schutzbedürftigen aus Süd-West-Asien und Nordafrika ab. Heute hingegen empfängt es Flüchtlinge und Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine mit offenen Armen. Auf die Frage, ob Polen heute das Schicksal Griechenlands und Italiens von vor einigen Jahren teilen kann, antwortete Wiebke Judith, Leiterin der Abteilung Recht und Advocacy bei PRO ASYL, mit einem Nein. Sie begründete dies damit, dass die Menschen, die damals in Europa ankamen, mit den Folgen des Fehlens einer umfassenden Migrationspolitik der Europäischen Union konfrontiert wurden. Inzwischen gibt es viele neue Vorschriften sowohl auf EU- als auch auf nationaler Ebene. Obwohl ein Teil von ihnen nach wie vor ungeschickt eingesetzt wird, haben die europäischen Entscheidungsträger begonnen, Lehren aus der humanitären Krise zu ziehen, die durch die starken Migrationsbewegungen von 2015 ausgelöst wurde. Nach Ansicht von Wiebke Judith sollte es heute einfacher sein reale Rahmen zur Aufnahme von Flüchtlingen zu erarbeiten, da auch der politische Wille, diese Menschen zu schützen, in Europa größer ist.

Die Diskussionsteilnehmer wiesen darauf hin, dass ein Vergleich der Migrationspolitik von 2015 und der aktuellen Migrationspolitik zeigt, dass mit zweierlei Maß gemessen wird. Ukrainische Männer und Frauen, die vor dem Krieg fliehen, müssen – im Gegensatz zu den Flüchtlingen von 2015 – keine Asylanträge stellen und können in fast jedem EU-Mitgliedstaat Zuflucht suchen. Damit werden die Regeln der EU-Asylpolitik gebeugt. Gemäß ihnen gilt, dass der Staat, in den der Asylbewerber zuerst einreist, für die Bearbeitung des Asylantrags zuständig ist. „Wir sollten die Erfahrungen, die wir jetzt sammeln, nutzen, um dieses System zu ändern“, antwortete Wiebke Judith auf die Frage, ob die EU-Migrationspolitik ausreicht, um die kommenden Herausforderungen zu bewältigen. Die Vorschriften werden geändert, aber zu langsam. „Ich habe den Eindruck, dass man sich um Details kümmert und den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht“, konterte Dr. Marcin Kędzierski, Experte am Zentrum für Analysen des Jagiellonen-Clubs.

Umdenken erforderlich

Dr. Olena Babakova, Forscherin zum Thema Migration in den Ländern Mittel- und Osteuropas, merkte an, dass Europa bisher reaktiv handelt – es reagiert auf Krisen, ist aber auf kurzfristige Maßnahmen ausgerichtet. Ihrer Meinung nach hat Polen keine Migrationspolitik erarbeitet, was u.a. mit dem Glauben an ein baldiges Ende des Krieges in der Ukraine zusammenhängt. Sie stellte fest, dass darüber hinaus Hilfe für fliehende ukrainische Frauen und Männer größtenteils von Nichtregierungsorganisationen, lokalen Behörden und Freiwilligen geleistet wurde. Es fehlte eine staatliche Einrichtung, dank der die Unterstützung besser organisiert und wirksamer gewesen wäre. Zum Schluss wies sie auf die kürzlich erfolgte Verleihung von Medaillen und Orden an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des polnischen Ausländeramtes für deren Tätigkeit im Bereich der Migrationspolitik. „Es gibt keine Migrationspolitik, aber Medaillen dafür gibt es“, pointierte Babakova.

Die Workshop-Teilnehmer betonten, dass eine gute und funktionsfähige Migrationspolitik Integrationsmaßnahmen erfordert. Die Integration selbst ist jedoch schwer umzusetzen, was Marcin Kędzierski begründete, indem er auf das Problem der gesellschaftlichen Konflikte in Frankreich hinwies. Weder Menschen aus dem Aufnahmeland noch Menschen aus Drittstaaten können zur Integration gezwungen werden, auch nicht durch Rechtsvorschriften. Ihr Erfolg hängt u. a. von der Offenheit der Gesellschaft ab. Laut Dr. Axel Kreienbrink vom Forschungszentrum Migration, Integration und Asyl spielt die Vermischung von ethnischen und nationalen Gruppen an dem betreffenden Ort eine wichtige Rolle. Ihm zufolge verlaufen die Integrationsprozesse in Deutschland oder Spanien problemlos, da die Bevölkerungsstruktur dieser Länder bereits seit Jahren sehr vielfältig ist. Rechtliche Änderungen sind wichtig, aber sie werden nicht funktionieren, wenn wir die Mentalität der Gesellschaft nicht ändern.

Das letzte Thema, das in der Debatte angesprochen wurde, war die Verantwortung der Medien für die öffentliche Meinungsbildung über Migration und Flüchtlinge. Olena Babakova wies auch auf die Bedeutung der Populärkultur bei der Schaffung des Bildes eines Flüchtlings hin. Sie betonte, dass die Darstellung von Menschen, die vor Gefahren fliehen, als namenlose Masse sie ihrer Subjektivität beraubt und die öffentliche Wahrnehmung von Migranten und Migrantinnen negativ beeinflusst.

Der Appell nach einer verantwortungsvollen Wort- und Bildwahl ertönt in den heutigen Zeiten besonders deutlich, da der Informationsfluss sehr schnell ist und wenig Zeit zur Überprüfung bleibt. An vielen Fronten tobt ein Informationskrieg, der unsere Wahrnehmung vieler Fragestellungen radikal verändern kann. 

Die von Anna Mikulska von Amnesty International Polen moderierte Debatte fand am 9. Juni 2022 in Görlitz im Rahmen der 15. Deutsch-Polnischen Medientage statt.

Katarzyna Makarowicz, Zuzanna Świerczek