Helga Hirsch über Nikola Sellmairs Presse-Beitrag „Mein Großvater hätte mich erschossen“

Die Vergangenheit will nicht vergehen. Immer noch und immer wieder befassen sich deutsche und polnische Autoren mit deutscher Schuld und polnischem oder jüdischem Leiden, mit Vertreibung der Einen wie der Anderen, mit der Last der Erinnerung und dem schweren Weg zu Verständigung und Versöhnung.
Allerdings zeigt sich eine deutliche Akzentverschiebung: Kamen früher fast ausschließlich Zeitzeugen zu Wort, die berichteten, was sie selbst erlebt hatten oder bezeugen konnten, so schildern Autoren in letzter Zeit immer mehr Nachkommen, Kinder und Enkel, die keine persönliche Erinnerung mehr an den Zweiten Weltkrieg besitzen, sich dem Vergangenen aber dennoch nicht entziehen können.
Dass Traumata vererbt werden, ist bei den Kindern von Überlebenden des Holocaust inzwischen gut erforscht. Dass aber auch Nachkommen von Tätern leiden, haben wir uns lange zu denken verboten. Inzwischen aber wissen wir: Wer einen nationalsozialistischen Verbrecher als Großvater oder Vater hatte, ist tief davon geprägt.

Jennifer Teeges Großvater war der Kommandant des Konzentrationslager Plaszow in Krakau: Amon Göth, ein Sadist, schuldig gesprochen für die Ermordung Tausender von Häftlingen, 1946 in Polen hingerichtet durch den Strang.  
Jennifer Teege war 41 Jahre alt, als sie durch Zufall ihre Herkunft entdeckte.
Wissen aus der Familie besaß sie nicht. Mit vier Wochen kam sie in ein Kinderheim, mit drei Jahren zu ihren späteren Adoptiveltern. Die Mutter sah sie seit ihrem 7. Lebensjahr nicht mehr, die Großmutter beging 1983 Selbstmord.
Jennifer Teege ist die Tochter einer Deutschen und eines Nigerianers. Ihre Haut ist dunkel, ihre Haare sind kraus. Wie hätte sie auf die Idee kommen können, sie, die von den blonden, blauäugigen Mitschülern ausgegrenzt wurde als „Negerin“, könne die Enkelin eines „arischen“ Verbrechers sein?

Die Stern-Journalistin Nicola Sellmair erzählt diese unglaubliche Geschichte mit großer Sensibilität und ohne jede Effekthascherei.
Sie beschreibt Jennifer Teeges Spurensuche in Krakau, wo der Großvater vom Balkon seiner Dienstvilla auf KZ-Häftlinge schoss und sie anschließend von seinen Hunden zerfleischen ließ.
Sie schildert die vorsichtige Wiederbegegnung von Jennifer Teege mit ihrer Mutter, die sich von dem Wissensdrang der Tochter letztlich überfordert fühlt.

Gelungen verwebt die Journalistin die Identitätskrise der Protagonistin mit ihrer Familiengeschichte und dem historischen Hintergrund. Sie präsentiert eine ganz individuelle, sehr besondere Biographie, illustriert aber gleichzeitig Probleme, wie sie auch Nachkommen anderer prominenter Nazis umtreiben.
Enkel wie Jennifer Teege müssen die Vergangenheit nicht mehr so oft wie ihre Väter und Mütter verdrängen. Sie wollen wissen, was geschah. Und sie können schon oft genug erfahren, dass die Nachkommen der Opfer sie nicht mit der Schuld der NS-Täter belasten. Nachdem Jennifer Teege sich ihren langjährigen Freunden in Israel offenbart hat, geschieht das schwer Denkbare: Ihre jüdischen Freunde bleiben ihre Freunde, obwohl viele Verwandten im Holocaust umkamen.
So hat Nicola Sellmair für uns alle auch ein tröstliches Stück geschrieben.  
Wir gratulieren zum 1. Preis!