Gazeta Wyborcza [dt. Wahlzeitung] ist nach Fakt die größte überregionale Tageszeitung Polens. Mit einer geschätzten Leserschaft von 4,5 Millionen ist die GW das wichtigste Organ der Meinungsbildung in Polen. Chefredakteur der GW ist seit 1989 Adam Michnik. Politisch vertritt die Gazeta eine links-liberale Position, versteht sich jedoch als überparteilich. Das Blatt wird von Agora herausgegeben, die nur zu 50 Prozent in polnischer Hand ist, der restliche Aktienanteil (free float) ist nicht in festem Besitz. Mit fünf Prozent der Aktien sind die Mitarbeiter am Konzern beteiligt.
Der Runde Tisch machte im Frühjahr 1989 den Weg für Wahlen zum Sejm und Senat frei. In den Gesprächen mit der kommunistischen Regierung am Runden Tisch erlaubten die kommunistischen Machthaber der Opposition bzw. der Solidarność die Gründung eines Oppositionsblattes. Vier Wochen vor den angesetzten Wahlen erschien in einer Auflage von 150.000 Exemplaren am 8. Mai 1989 die erste achtseitige Ausgabe der „Gazeta Wyborcza Solidarność“ mit dem weltberühmten Solidarność-Schriftzug und dem Motto „Nie ma wolności bez Solidarności“ [dt. Keine Freiheit ohne Solidarität]. Die erste Nummer wurde von einem 20-köpfigen Team unter Adam Michnik erstellt. Im September 1990 zerstritt sich die Redaktion mit dem Gewerkschaftsführer Lech Wałesa, der der Zeitung daraufhin untersagte, das Solidarność-Logo und den Wahlspruch zu benutzen.
Schwer zu schaffen machte dem Flagschiff Gazeta Wyborcza die Einführung des Boulevardblatts Fakt im Oktober 2003. Die Werbeeinnahmen und Leserzahlen schrumpften. Als Antwort schickte Agora im November 2005 das neue Blatt Nowy Dzień [dt. Neuer Tag] ins Rennen. Es sollte den verlorengegangenen Boden gegenüber Springer wettmachen, doch die geplanten Verkaufszahlen von 250.000 Exemplaren wurden nie erreicht. Das Blatt wurde am 23. Februar 2006 eingestellt, nachdem die verkaufte Auflage im Sturzflug von 212.000 auf 130.000 Exemplare gefallen war. Ein schwerer Schlag. Nicht nur ökonomisch musste die GW in den letzten Jahren Federn lassen. Auch ihr guter Ruf (u.a. durch Rywingate) litt.
Der Filmproduzent Lew Rywin hatte im Sommer 2002 Adam Michnik eine Schmiergeldforderung überbracht. Rywin stellte sich als Abgesandter einer „Gruppe, die die Macht in Händen hält“ vor und berief sich unter anderem auf den Regierungschef Miller. Michnik, der das Gespräch heimlich mitschnitt, wurde von Rywin ein verlockendes Angebot gemacht: 17,5 Millionen Dollar würden genügen, um einen gerade heftig diskutierten Gesetzentwurf abzuändern, so Rywin, und zwar im Sinne des Konzerns Agora. Der Gesetzentwurf hatte vorgesehen, die Expansion von Zeitungsverlegern im Bereich der elektronischen Medien stark zu begrenzen. Das erste Opfer wäre Agora gewesen, die nach Investitionen in Radiostationen geplant hatte, Anteile am größten privaten Fernsehsender Polsat zu erwerben. Erst im Dezember 2002 ging Michnik mit dieser Geschichte an die Öffentlichkeit. Ein Riesencoup für die GW, die mit „Rywingate“ einen der größten Korruptionsskandale nach 1989 publik machte. Obwohl GW den gescheiterten Deal veröffentliche, blieben Fragen offen, die Michnik auch im späteren öffentlichen parlamentarischen Untersuchungsausschuss nicht beantworten konnte oder wollte. Die Rywin-Affäre war der Anfang vom Niedergang der SLD-Regierung, kratzte aber auch am untadeligen Image der GW und ihres Chefredakteurs.
Heute beschäftigt das Blatt rund 800 Journalisten, die u. a. 21 Lokalausgaben erstellen. Die GW ist Stifter des renommiertesten Literaturpreises Polens (Nike), der seit 1997 vergeben wird. 2011 hatte die Zeitung eine durchschnittlich verbreitete Auflage von 305.861 Exemplaren. Für Januar 2013 plant der Verlag, 250 Mitarbeiter zu entlassen.
(07.10.2012 | Copyright: Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit 2012)