Über seine Arbeit in Zeiten des Kalten Krieges, die Pflichten des modernen Journalisten, die Zukunft der öffentlichen Medien und die Bedeutung der Deutsch-Polnischen Medientage spricht Fritz Pleitgen, ehemaliger Korrespondent der ARD in Moskau und Ostberlin und langjähriger Intendant des WDR.


Paul-Richard Gromnitza: Herr Pleitgen, Moskau, Ostberlin, Washington. Als Korrespondent waren Sie nie in Warschau tätig. Was hat Sie bewogen, sich dennoch als Botschafter der 4. Deutsch-Polnischen Medientage zu engagieren?

Fritz Pleitgen: Polen hat mich politisch und journalistisch immer außerordentlich interessiert. Ich war dabei, als Willy Brandt Ende 1966 gegenüber einer kleinen Journalistenrunde seine Vision von einer mutigen Ostpolitik der Bundesrepublik Deutschland offenbarte. „Uns muss gelingen, zu Polen ein gleich gutes Verhältnis wie zu Frankreich herzustellen“, sagte er damals. Der Schlüssel dazu liege in Moskau, fügte er hinzu. Das waren mitten im Kalten Krieg kühne Gedanken. Ich war davon begeistert und wurde als Journalist ein entschiedener Anhänger der Ostpolitik. Mein Berufsweg führte mich zunächst über Moskau, Ostberlin, Washington und New York nach Köln. Als sich Polen vom Sowjetimperium freikämpfte, habe ich im Deutschen Fernsehen ab 1988 als WDR-Chefredakteur in vielen Sondersendungen die dramatische Entwicklung geschildert, die zum Ende der deutschen wie auch europäischen Teilung führte. Die Rolle, die Polen bei dieser epochalen Wendung der Geschichte gespielt hat, habe ich nie vergessen. Mir war auch bewusst, dass das vereinte Europa unbedingt Polen als inspirierendes Mitglied benötigte. Deshalb habe ich als Chefredakteur und später als Intendant großen Wert darauf gelegt, dass der WDR für die ARD in Polen mit einem starken Studio vertreten ist, der geschichtlichen und künftigen Bedeutung des Landes entsprechend. Aus meiner Erfahrung und meiner Überzeugung heraus habe ich mich als Botschafter der 4. Deutsch-Polnischen Medientage gewinnen lassen.

PRG: Die Medientage in Zielona Góra finden kurz vor dem 20. Jahrestag der Unterzeichnung des Deutsch-Polnischen Nachbarschaftsvertrags statt. Ein durchaus historisches Ereignis, das aber irgendwie als solches gerade in Deutschland nicht wahrgenommen wird. Woran liegt es?

FP: Die deutsche Einheit ist ein so überragendes Ereignis in unserer Geschichte, dass jedes andere Jubiläum dahinter zurückfällt. Das müssen wir realistisch sehen. Mit Geringschätzung des deutsch-polnischen Verhältnisses hat das nichts zu tun. Mit Frankreich haben wir Ähnliches erlebt. In einer Zeit, wo die Menschen täglich, ja stündlich mit neuen dramatischen Bildern eingedeckt werden, haben es Jahrestage schwer, Aufmerksamkeit zu gewinnen. Rückblicke, mögen sie noch so bedeutungsschwer sein, bringen wenig. Neue frische Bilder müssen her. Emotionen in gutem Sinne müssen geschaffen, aktuelle Themen auf attraktive Weise angesprochen werden.

PRG: Nun wollen die Veranstalter der Medientage aber bewusst nach vorn schauen, deshalb lautet das diesjährige Motto "Agenda 2031: Die nächsten 20 Jahre Nachbarschaft – Deutschland, Polen und die EU". Was für Themen kommen Ihnen persönlich bislang zu kurz oder anders gefragt, was gehört auf die Agenda der nächsten Jahre?


FP: „Agenda 2031“ klingt interessant. Ich selbst bin kein Fachmann für derartig langfristige Ziele. Als Journalist habe ich lieber konkrete kurzfristige Marken, die sich von den Zeitgenossen überprüfen lassen. Das macht die Sache spannender. Auf alle Fälle muss die Bevölkerung mitgenommen werden. Dafür müssen entsprechende Initiativen entwickelt werden. Ganz konkrete Probleme müssen angesprochen werden. Das heißt, es muss herausgearbeitet werden, was bislang schief läuft oder wo es Verbesserungsbedarf gibt. Um in dieser Hinsicht qualifiziert mitreden zu können, müsste ich an einem intensiven Brainstorming beteiligt werden.

PRG: In den nächsten 20 Jahren werden sich sicherlich die Medien und Mediennutzung fundamental ändern. Auf was müssen sich gerade die Öffentlich-Rechtlichen in Deutschland und Polen einstellen?

FP: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland und Polen befindet sich in sehr unterschiedlicher Verfassung. Beide brauchen ein Höchstmaß an Unabhängigkeit und eine solide Finanzierung. Sind diese Voraussetzungen gegeben, wird der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland wie in Polen die rapiden technischen Veränderungen nutzen, um das Publikum mit dem bestmöglichen Programm zu versorgen. Das gilt insbesondere für die Information. So einfach ist das.

PRG: Wird es 2031 noch lineares Fernsehen in Echtzeit geben?

FP: Schwer vorstellbar!

PRG: Und wird das Öffentlich-Rechtliche bis dahin überleben?

FP: Ich bin da ziemlich sicher. Es wäre für die Demokratie schlecht, wenn dem unabhängigen öffentlich-rechtlichen Rundfunk der Garaus bereitet würde.

PRG: Aber zurück ins Jahr 2011. Ein Panel beschäftigt sich mit den grenzüberschreitenden Medien und hier wird gefragt, was wir aus deutschen/polnischen Medien über das Nachbarland erfahren sollten? Natürlich wird in beiden Ländern über den jeweiligen Nachbarn berichtet. Die Frage lautet aber: Beschränken wir uns nicht zu sehr auf Sensationelles oder auf das banale Stereotyp?

FP: Ob Sensation oder nicht, es sollte über das berichtet werden, was die Menschen auf beiden Seiten von Oder und Neiße interessiert, was sie in ihren Erkenntnissen weiterbringt und ihnen ein sicheres Urteil erlaubt, wenn es um ihre Stimme geht. Journalisten sollten es sich nie einfach machen. Die Wahrheit ist sehr komplex, sie besteht oft aus mehreren, manchmal gar aus vielen Wahrheiten. Journalisten sollten weder Langeweile noch billige Stereotype und erst recht keine billigen Vorurteile verbreiten. Dies muss die Botschaft auch der deutsch-polnischen Medientage sein.

PRG: Allgemein habe wohl nicht nur ich den Eindruck, dass gerade die berichterstattenden Journalisten erschreckend wenig über Polen wissen. Von ungenügender Sprachkenntnis ganz zu schweigen. Zudem fehlt doch wohl häufig ein echtes Interesse am Sujet. Wie können wir dem begegnen?

FP: Ob die berichterstattenden Journalisten zu wenig über Polen wissen, vermag ich nicht zu sagen. Es ist natürlich gut, wenn man die Sprache des Landes beherrscht. Auf der anderen Seite hilft das vereinte Europa bei der Verständigung sehr. Viele Menschen, mit denen Journalisten zu tun haben, beherrschen mehr als nur ihre eigene Sprache. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Journalisten kein Interesse am Sujet haben. Sollte das der Fall sein, haben sie ihren Beruf verfehlt.

PRG: Journalistenpreise wie der deutsch-polnische sind ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Was kann noch getan werden, um mehr und interessanter übereinander zu berichten?

FP: Journalistenpreise sind sicher hilfreich, aber es muss mehr geboten werden. Die deutsch-polnischen Medientage müssen attraktive Auseinandersetzungen bieten. Es dürfen ruhig die Fetzen fliegen. Wenn es nur gediegen hergeht, springt kein Funke über. Ich hoffe, Sie sind entsprechend gerüstet.

PRG: 2016 wird eine polnische Stadt Europas Kulturhauptstadt sein. Fünf Metropolen (Breslau, Danzig, Kattowitz, Posen und Warschau) ringen um diesen Titel. Welcher gönnen Sie es am meisten und warum?

FP: Es wäre unfair von mir, einen Favoriten auf den Schild zu heben. Alle fünf sind erstklassige Kandidaten. Alle fünf verdienen den Titel. Aus eigener Erfahrung kann ich nur sagen, es lohnt sich, an dem Rennen teilzunehmen. Die Konkurrenz setzt viele gute Ideen in Gang. In diesem Sinne wünsche ich Breslau, Danzig, Kattowitz, Posen und Warschau viel Glück. Der Titelträger muss mit meinem Besuch rechnen.


Das Gespräch führte Paul-Richard Gromnitza im April 2011.